Erfahrungsbericht zum Thema

Arbeit

 

 

Von behinderten Menschen und ihren Organisationen wird zu Recht immer wieder betont, dass ein Arbeitsplatz eine der wichtigsten Komponenten in der Integration behinderter Personen im Erwerbsfähigen alter ist. Sie wenden sich damit gegen Überlegungen, dass es für Behinderte doch besser sei, entweder eine Behindertengrundrente zu erhalten, die ihnen die Anstrengungen eines Arbeitsplatzes erspart, oder ihnen zumindest einen Job zu ermöglichen, den sie von zu Hause aus erledigen können, um ihnen so den stressigen Arbeitsweg zu ersparen.

 

Wir betonen dem gegenüber, dass wir ins „normale“ Leben integriert sein wollen, und dass wir - wie jeder andere Mensch auch - den Austausch mit Arbeitskollegen brauchen.

 

Ich war immer ins „reguläre“ Arbeitsleben integriert, kann also nicht über Erfahrungen mit einem Arbeitsplatz im eigenen Haus berichten.

 

Ich bin Diplompädagoge und blind. Mein Studium war eher an Theorie als an Praxis Orientiert. Als ich mein Diplom in der Tasche hatte, fing ich an, mich um Stellen zu bewerben.

 

Behinderte stellen oft die Frage: „Soll ich in meinen Bewerbungsunterlagen meine Behinderung erwähnen?“ Ich hatte mich dafür entschieden, dies zu tun, zumal man an meinem Lebenslauf eindeutig erkennen konnte, dass ich meine Schulausbildung in Blindenschulen gemacht hatte. Hinzu kommt, dass meine Blindheit nichts ist, das ich „verbergen“ müsste. Spätestens beim Vorstellungsgespräch würde der potentielle Arbeitgeber doch merken, dass ich nicht sehen kann. Zum einen könnte er sich dann von mir getäuscht fühlen; zum anderen könnte er den Eindruck gewinnen, dass auch für mich die Blindheit eine Tatsache ist, die ich lieber verschweigen möchte.

 

Natürlich sind die Chancen, zu einem Interview eingeladen zu werden, geringer, wenn der Arbeitgeber (oder der zuständige Sachbearbeiter) liest, dass der Bewerber behindert ist. Diese Erfahrung musste auch ich machen, obwohl ich mich ja um Stellen im „Sozialbereich“ beworben habe. Ich habe zum Beispiel bei einer Einrichtung angerufen und gefragt, ob überhaupt Stellen frei seien. Das wurde bejaht. Dann schickte ich die Bewerbung, aus der ersichtlich wurde, dass ich blind bin. Innerhalb einer Woche hatte ich eine Absage, weil „im Moment leider keine Stellen frei sind“. Ein kirchlicher Verband meldete sich überhaupt nicht, und auf Rückfrage erfuhr ich dann, dass man meine Unterlagen „versehentlich“ verlegt habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber bereits eine Stelle bei einem anderen Wohlfahrtsverband, so dass ich auch nicht mehr enttäuscht war, als dann sehr schnell der Brief des kirchlichen Verbandes kam, in dem natürlich wieder stand, dass im Moment „leider keine Stelle frei“ sei.

 

Die Erfahrung, dass eine Ablehnung damit entschuldigt wird, dass keine Stelle frei sei, hatte ich schon am Ende meiner Schulzeit gemacht. Mein Traumberuf wäre es gewesen, Rundfunksprecher zu werden. Obwohl sich einige Menschen für mich einsetzten, wurde mir damals mitgeteilt, dass im Moment kein Bedarf an neuen Sprechern sei. Drei Monate später änderte der Sender sein Programmkonzept und einige neue Stimmen tauchten auf. Ich war damals noch nicht kämpferisch und selbstbewusst genug, um mich gegen diese offensichtliche Diskriminierung zu wehren.

 

Das Problem lag natürlich darin, dass sich die Verantwortlichen beim von mir anvisierten Rundfunksender nicht vorstellen konnten, wie ein blinder Mensch als Rundfunksprecher arbeiten solle. Und was sich ein Personalverantwortlicher nicht vorstellen kann, ist halt auch nicht möglich, selbst wenn es, um bei meinem Beispiel zu bleiben, in anderen Ländern viele blinde Menschen gibt, die als Sprecher bzw. Diskjockey beim Rundfunk arbeiten. Man wird immer einen Grund finden, warum das dort geht, im eigenen Betrieb aber unmöglich ist.

 

Ich wurde von einem einzigen Verband zum Job-Interview eingeladen. Das Gespräch verlief sehr positiv; am Ende des Interviews sagte der Verbandsgeschäftsführer: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie als blinder Diplompädagoge arbeiten wollen. Aber Sie können es sich vorstellen, und ich bin bereit, es zu probieren.“ Dies ist die Einstellung, die man sich von potentiellen Arbeitgebern wünscht und die auch heute, über 20 Jahre später, kaum anzutreffen ist.

 

Natürlich gab es noch einen anderen Anreiz, mich einzustellen: Als einer der ersten blinden Diplompädagogen in Deutschland war ich „schwer vermittelbar“; und es gab ein Programm der Bundesregierung, das einem Arbeitgeber für einen Zeitraum von bis zu 3 Jahren zusicherte, 80 Prozent (in bestimmten Fällen sogar mehr) des Gehalts eines schwer vermittelbaren Arbeitnehmers zu übernehmen.

 

Am Anfang meiner Berufstätigkeit stand ich vor einem Problem: Meine direkten Kollegen konnten sich nicht vorstellen, wie ich meine Arbeit erledigen würde. Ich kannte meine Arbeitstechniken, aber nicht das Arbeitsfeld. Mein Studium war sehr theoretisch und hat mir wenig praktisches Rüstzeug für die konkrete Arbeit gegeben.

 

Das erste, was ich also tat, war sicherzustellen, dass ich die erforderlichen Arbeitsgeräte (Punktschriftmaschine, reguläre Schreibmaschine, Kassettenrecorder) sowie einen Vorleser bekam. Heute wäre ein Computerarbeitsplatz mit Sprachausgabe, Brailledisplay, Scanner, Punktschrift- und regulärer Drucker und Internetzugang unverzichtbar. Das Arbeitsamt bezahlte die Hilfsmittel, wobei einige Zeit ins Land ging, bis die Ausrüstung komplett war. So lange musste ich mir mit Hilfsmitteln aus dem eigenen Besitz behelfen. Als Vorleser wurden mir Zivildienstleistende (Personen, die anstatt dem Militärdienst einen zivilen Ersatzdienst leisten) zur Verfügung gestellt. Das gehörte zu deren regelmäßigen Aufgaben, so dass es nicht passieren konnte, dass einer nur zu mir kommen durfte, wenn er nicht anderweitig eingesetzt wurde. Auch meine Kollegen einschl. Büropersonal waren stets bereit, mich zu unterstützen, wenn das erforderlich war.

 

Die erste Arbeit, die ich übernahm, war das Protokoll über eine Besprechung zu schreiben. So etwas hatte ich ja schon in Vorlesungen genügend geübt. Mein Protokoll war das längste und ausführlichste, das jemals über eine solche Besprechung verfasst wurde.

 

Gemeinsam mit meinen Kollegen überlegte ich dann, welche Aufgaben ich übernehmen könnte. Sie schlugen mir vor, mich um die Ferienfreizeiten zu kümmern, die der Verband alljährlich in den Sommerferien anbot. Dieses Thema war in meinem Studium nie aufgetaucht; aber ein Kollege, mit dem ich sehr rasch Freundschaft geschlossen hatte, sollte ebenfalls für diesen Bereich, der neu zu unserer Abteilung kam, zuständig sein, und so stimmte ich zu.

 

Jetzt hatte ich ein Arbeitsfeld, in das ich mich gut einarbeiten konnte. Einer der Schwerpunkte war die Vorbereitung und Durchführung der Schulungen, in denen die künftigen Ferienbetreuer (fast ausschließlich junge Leute, die diese Aufgabe ehrenamtlich übernehmen wollten) auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden sollten. Selbstverständlich stimmte man mir zu, dass ich nicht nur theoretisch dieses Thema schulen könnte, wenn ich nicht selbst auch praktische Erfahrungen sammeln konnte. So fuhr auch ich als Ferienbetreuer mit in eine Freizeit. Über meine dortigen Erfahrungen musste ich für den Geschäftsführer einen Erfahrungsbericht schreiben. Gerede, dass ich nicht die Verantwortung für die Kinder übernehmen könnte, weil ich sie nicht ständig (mit den Augen) beobachten könne, gab es nie! Es hat auch nie Situationen gegeben, in denen meine Blindheit ein Problem gewesen wäre. Im Gegenteil: Es zeigte sich, dass gerade „schwierigere“ Kinder meine Nähe suchten und - entgegen den Erfahrungen aus früheren Freizeiten - nicht als „schwierig“ auffielen.

 

Man war bei diesem Wohlfahrtsverband mit meiner Arbeit offensichtlich sehr zufrieden; denn nach einem Jahr wurde noch ein zweiter blinder Diplompädagoge eingestellt.

 

Zu meinen Aufgaben bei diesem Wohlfahrtsverband gehörten neben dem Bereich Ferienmaßnahmen:

-         Mitarbeit beim Aufbau der Jugendorganisation des Verbandes,

-         Organisation und Koordination der Bundesland-weiten Fortbildung für hauptamtliche Mitarbeiter,

-         Erstellen von Konzepten für neu-geplante Einrichtungen,

-         Weiterentwicklung von Konzepten bei bestehenden Einrichtungen,

-         Erstellen von Stellungnahmen, Thesenpapieren und Referaten für den Vorsitzenden und Geschäftsführer,

-         Mitarbeit bei der Erstellung von Publikationen des Verbandes

-         u. a. m.

 

1983 ging ich als Teilnehmer an einem internationalen Austauschprogramm für Mitarbeiter im Sozialbereich für 16 Monate in die USA. Dort arbeitete ich für 12 Monate in Einrichtungen des Blindenwesens in Chicago. Ich stellte dort fest, dass ich eine besondere Befähigung für die Arbeit mit Menschen habe, die als Erwachsene erblindet sind und nun die Fertigkeiten erlernen müssen, die sie wieder zu einem selbständigen und selbstbestimmten Leben befähigen. Ausgehend von der Überlegung, dass viele andere meine Tätigkeit beim Wohlfahrtsverband ähnlich gut machen könnten, dass ich aber schon auf Grund meiner Vorbildfunktion in der Rehabilitation Spät-erblindeter eine besondere „Berufung“ habe, entschied ich mich, durch ein zweites Universitätsstudium, diesmal in den USA, die Qualifikation zum Rehabilitationslehrer für erwachsene Blinde zu erwerben. Es gelang mir, dies zu verwirklichen.

 

Im Herbst 1986 wurde an der Blinden- und Sehbehindertenschule meines Bundeslandes die Stelle des Internatsleiters frei. Man bot mir diese Stelle an, zumal auch geplant war, bei der Schule eine Rehabilitationsabteilung für Spät-erblindete anzusiedeln, die ich dann leiten sollte. Ich bewarb mich und trat - nachdem das zuständige Ministerium meiner Einstellung zugestimmt hatte - im Februar 1987 die Stelle an.

 

Im Unterschied zu meiner Tätigkeit beim Wohlfahrtsverband war ich hier kaum noch darauf angewiesen, längere Texte (Fachbücher) vorgelesen zu bekommen. Dafür fiel mehr Schriftverkehr an. Mir stand zunächst ganztägig ein Zivildienstleistender zur Verfügung. Es zeigte sich jedoch, dass mein Bedarf an Arbeitsplatzassistenz bei dieser Arbeitsstelle nicht so hoch war. Ich verzichtete deshalb auf „meinen eigenen Zivi“, bekam aber im Bedarfsfall einen zugeteilt; ansonsten unterstützte mich eine Kollegin der Verwaltung bei der Erledigung der schriftlichen Arbeiten (Briefe vorlesen und versenden, Korrektur - soweit erforderlich - von Berichten, Ausfüllen von Fragebögen udgl.).

 

Neben der reinen Tätigkeit als Heimleiter übernahm ich im Rehabereich die Beratung blinder Menschen und den Brailleschriftunterricht. Da der Rehabereich sich aus Kostengründen nie zu einer eigenständigen Abteilung entwickeln konnte, Wurde auch kein offizieller Leiter benannt.

 

1996 trat ich dann meine Gegenwärtige Stelle - sozusagen eine neue Herausforderung - an: Aufbau und Leitung einer Fort- und Weiterbildungseinrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen. Für diese Tätigkeit steht mir ganztags eine Arbeitsplatzassistentin zur Verfügung, die anfänglich von einer Regierungsbehörde (Hauptfürsorgestelle - heute „Integrationsamt“) finanziert wurde; an den Kosten muss sich der Träger meiner Einrichtung inzwischen mit 50 Prozent beteiligen. Ohne diese Unterstützung könnte ich die Arbeit nicht leisten.

 

Die Assistentin muss mir den eingehenden Schriftverkehr vorlesen, den ausgehenden versenden, Texte (z. B. Seminarunterlagen, die Referenten in schriftlicher Form einreichen) vorlesen, die Einrichtungen, in denen wir Kurse durchführen, buchen, die Teilnehmerlisten führen u. a. m. Da wir nur ein Zwei-Personen-Betrieb sind, übernimmt sie zwangsläufig Aufgaben, die in einem größeren Unternehmen von einer Sekretärin erledigt würden. Dadurch habe ich mehr Zeit, mich um die pädagogischen Bereiche unserer Arbeit sowie um die Übertragung der Lehrmaterialien in Brailleschrift zu kümmern.

 

An der Auswahl der Assistentin war ich selbst beteiligt. Dies halte ich für sehr wichtig, denn ich bin derjenige, der mit der Assistentin zusammenarbeiten können muss.

 

Wichtig ist, eine klare Abklärung der Kompetenzen zwischen behindertem Arbeitnehmer und seiner/ihrer Assistenzkraft vorzunehmen. Mir sind Fälle bekannt, wo sich Assistenten immer stärker als Chef des Teams verstanden haben; in anderen Fällen wird der/die Assistent(in) oft vom Unternehmen für andere Tätigkeiten als die, für die er/sie eingestellt wurde, eingesetzt. Es ist deshalb wichtig, klar festzulegen, dass der behinderte Mitarbeiter und sein/e Assistent/in ein eigenes Team sind (je nach Situation innerhalb eines anderen Mitarbeiterteams), und dass nur derjenige, für den die Assistenz eingestellt wurde, über deren Einsatz verfügen kann.

 

Mit der Einstellung einer Assistenzkraft sind - wie oben erwähnt - Kosten verbunden, die häufig von Arbeitgebern gescheut werden. Gleiches gilt für die erforderlichen Hilfsmittel, die zwar viel leistungsfähiger, aber auch viel kostspieliger sind als meine erste Ausrüstung im Jahr 1980. Es muss deshalb gesetzlich verankert werden, dass behinderte Mitarbeiter grundsätzlich ein Recht auf beides haben!

 

 

In diesem Bericht bin ich nicht auf das Thema „Wie komme ich zum und vom Arbeitsplatz“ eingegangen. Es gehört zum allgemeinen Bereich Mobilität und muss von behinderten Arbeitnehmer selbst geklärt werden. Wenn der Arbeitgeber ihm/ihr dabei entgegenkommen kann, ist das begrüßenswert. Ich hatte eine Vergünstigung bei meinem Job als Heimleiter: Um mir einen Weg vom Bahnhof zur Arbeitsstelle von 25 Minuten zu ersparen, wurde ich von einem Zivildienstleistenden abgeholt, wenn der hauseigene Bus zur Verfügung stand. Ich hätte meinen Beruf auch ohne dieses Privileg ausüben können, aber es war trotzdem eine große Hilfe, zumal schon die Bahnfahrt zur Arbeitsstelle wegen zweimaligem Umsteigen etwa eine Stunde gedauert hat. Bei der Fahrt zur Arbeit haben wir in den späteren Jahren eine andere, elegante Lösung gefunden: Ich fuhr in dem Bus mit, der die externen Schüler aus meiner Wohngegend zur Schule brachte. Ich war dann die offizielle Begleitperson, die ohnehin im Bus mitfahren musste. Regelungen wie diese können als Beweis dafür dienen, dass ein behinderter Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber nicht mehr Geld kosten muss (Mehraufwendungen werden - zumindest in Deutschland - ohnehin oft von Regierungsprogrammen gedeckt), sondern dass er für den Arbeitgeber sogar eine Ersparnis bringen kann.

 


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