Zu Besuch bei den alten Römern


In Kaiseraugst wird die Vergangenheit lebendig

Es begab sich aber zu der Zeit, da noch Gebote von Kaiser Augustus ausgingen, daß eine Stadt entstand am Ufer des Rheins. Sie ward etwa 10 km östlich von dem Flecken gelegen, der heute Basel heißt und diente den Römern als Garnisonsstadt. Zu ihrer Zeit war sie eine der größten römischen Siedlungen nördlich der Alpen, und zählte um das Jahr 80 n. Chr. etwa 20000 Einwohner. Heute ist sie ein kleines Städtchen in der Schweiz mit Namen Kaiseraugst.

Am Sonntag, 2. Mai 1993 brachen Mitglieder der Jugendgruppe des Bezirks Oberrhein des südbadischen Blindenvereins mit ihrer Leiterin, Elisabeth Geisler auf, um die Ruinen jener alten Römerstadt zu besichtigen. Herr und Frau Schossig aus Weil und ihre Tochter Annette hatten sich sozusagen als Reiseführer zur Verfügung gestellt, und ich hatte als Gast die Möglichkeit, ebenfalls an dem Ausflug teilzunehmen.

Eigentlich ist das ganze Dorf wie ein Museum. Die Funde aus der Römerzeit sind so zahlreich, daß fast in jedem Garten ein Stück einer historischen Säule den anderswo so beliebten Gartenzwerg ersetzt. Immer wieder, so war zu erfahren, wurden und werden beim Pflügen oder Bauen neue Funde zutage gefördert. Dabei war der Sinn für das praktische oft stärker als der für historische Werte. Noch in diesem Jahrhundert mußte eine Tempelruine weichen, weil sie der Entwicklung der Landwirtschaft im Wege stand.

Wir parkten nicht allzu weit vom eigentlichen Römermuseum entfernt und machten uns auf den Weg zum Gelände, auf dem die interessantesten Sehenswürdigkeiten zu finden sind. Schon bald stießen wir auf die ersten Grabsteine aus der Römerzeit. Zunächst waren wir noch darauf angewiesen, daß uns unsere Begleiter die Texte auf den Hinweistafeln vorlasen. Dann aber kamen wir in den Bereich, der für Blinde besonders interessant ist: Neben den Schwarzschriftschildern standen Tafeln, auf denen der gleiche Text in Punktschrift (Vollschrift) zu lesen war. Die Schrift ist auf rauher Metallfolie gut tast- und lesbar.

Einige von uns betrachteten zuerst die Statuen und lasen dann den Erläuterungstext; wir anderen zogen es vor, erst den Text zu lesen, weil wir dann schon genauer wußten, auf welche Details wir achten sollten.

Besonders beeindruckend war die Statue eines Ehepaares, die erst in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts entdeckt wurde: links steht die Frau, rechts der Mann; beide sind in einfache Gewänder gekleidet. Er hält in seiner rechten Hand einen Stock, der ihn als Offizier zu erkennen gibt.

Einmal wandte sich ein Mitarbeiter des Museums an uns: Er wollte wissen, ob die Punktschrift auf den Tafeln gut zu lesen sei. Dies konnten wir ihm, wie bereits angemerkt, bestätigen. Nachdenklich stimmte mich die Frage aber schon: Er hatte noch nie gesehen, daß blinde Besucher gekommen waren und dieses Angebot genutzt hatten. Ich bin sicher, wir waren nicht die ersten; aber all zu viele können es wohl doch noch nicht gewesen sein, sonst hätte auch er schon andere vor uns befragen können. Vielleicht liegt es daran, daß dieses Museum in Blindenkreisen noch nicht bekannt genug ist. Ein Grund mehr, diesen Artikel zu schreiben.

Im eigentlichen Museumsgebäude gab es ein weiteres Angebot, daß zwar nicht speziell für Blinde geschaffen, doch von großen Nutzen für uns ist: Ein Koffer mit kleineren Fundsachen, die alle betastet werden durften. Dieser Koffer wird gewöhnlich an Schulen ausgeliehen; wir hatten Glück, an diesem Sonntag stand er für uns bereit. Zu sehen gab es kleinere Fundstücke wie Scherben von Krügen, Flaschen oder Fensterscheiben; aber auch Dinge die ganz erhalten waren wie ein Nagel, eine Speerspitze, ein Öllämpchen, ein Schlüssel, eine Haarnadel, kleine Bronzestatuen u. a. m. Mit besonderem Stolz - und in schönstem Schwitzer Dütsch - machte uns eine Mitarbeiterin des Museums auf ein kleines, komplett erhaltenes Parfümfläschchen aufmerksam. Es war in einer Schulklasse versehentlich zu Boden gefallen und völlig zerbrochen. Die Schüler hatten es wieder so zusammengeklebt, wie es ursprünglich gewesen war.

Im Museumsgebäude standen auch die Originale der Statuen, die wir bereits im Freien betastet hatten. Hier konnten wir uns selbst davon überzeugen, wie realistisch die Nachbildungen gelungen waren. Zu sehen - aber leider wirklich nur zu sehen - gab es auch ein Modell der alten Römerstadt; es befand sich unter einer Glasplatte, die uns niemand öffnen konnte. Es wäre wünschenswert, wenn man auch dieses Modell künftig blinden Besuchern zugänglich machen könnte!

Um so interessanter war dann der Nachbau einer alten Römervilla: ein Innenhof war von einem Säulengang umgeben, von dem aus man die einzelnen Räume erreichen konnte. Die Zimmer waren so eingerichtet, wie dies auch zur Römerzeit der Fall gewesen sein mag. Leider waren auch hier nicht alle Räume zugänglich; aber von Küche und Bad konnten wir uns einen guten Eindruck verschaffen.

Eine besondere Attraktion ist die Backstube, in der Besuchergruppen selbst mit den Werkzeugen der damaligen Zeit Brot backen können. Dabei interessierte uns besonders die handgetriebene Getreidemühle, von deren Funktionstüchtigkeit wir uns selbst überzeugen konnten.

Von der Villa war es nicht weit bis zu der Stelle, wo einst der Tempel gestanden hatte, bevor die Moral dem Fressen - also die Religion der Landwirtschaft - weichen mußte. Wir bestiegen den Tempelberg und ließen uns von Herrn Schossig die Informationstafeln über diese Kultstätte vorlesen. Bis hierhin war die Braille-Beschriftung noch nicht vorgedrungen. Eine Kuriosität in diesem Berg ist ein Gang, der mit dem eigentlichen Tempel nichts zu tun hat. Er entstand erst in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts, als ein damaliger Forscher und Schatzgräber meinte, hier habe einst ein Schloß gestanden, in dessen Ruinen er große Reichtümer entdecken könne. Das Loch im Berg ist also ein Denkmal für die Schatzsucher vergangener Zeiten.

Den Abschluß unserer Besichtigungstour bildete ein Abstecher in die Theaterruine. Hier konnten wir uns selbst davon überzeugen, wie gut die Akustik war: Jörg Nörenberg und Annette Schossig stellten sich in die Mitte des Theaters und sangen für uns die erste Strophe von "Komm lieber Mai und mache ...". Unsere begeisterten "Zugabe"-rufe wurden von den beiden Künstlern allerdings schnöde ignoriert.

Nach dieser langen Tour - sie hatte über drei Stunden gedauert - hatten wir uns das Mittagessen reichlich verdient. Hier entschieden wir uns allerdings nicht für die alten Römer, sondern schlugen uns auf die Seite ihrer Sklaven und suchten ein griechisches Lokal auf.

Unser Dank für diesen interessanten Tag gilt allen, die diese Tour organisiert haben, vor allem natürlich Familie Schossig, ohne deren Unterstützung und sachkundige Führung diese Besichtigung kaum möglich gewesen wäre!


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