Erfahrungsbericht zum Thema

Beziehungen

 

Das Thema „Beziehungen“ kann in zwei Schwerpunkte unterteilt werden: 1. Allgemeine Beziehungen zwischen den Menschen und 2. Partnerschafts- bzw. Liebesbeziehungen. Da letztere ohne die ersteren nicht möglich sind (immerhin muss man mit einem Menschen in Beziehung treten, bevor sich Partnerschaft oder Liebe entwickeln kann), wird es mir nicht durchgängig möglich sein, auf beide Bereiche getrennt einzugehen. Hinzu kommt, dass viele der „Probleme“, die in beiden Bereichen auftreten können, ihre Wurzeln in den gleichen Vorurteilen oder Hemmungen haben, wobei diese im partnerschaftlichen Bereich besonders deutlich sichtbar sind.

 

 

Behinderte Menschen sind in der Gesellschaft eine Minderheit. Daraus resultiert, dass viele nicht-behinderte Menschen sich im Umgang mit Behinderten unsicher fühlen und Kontakte mit Behinderten oft sogar vermeiden wollen. Mangelnde Erfahrung führt dann dazu, dass Vorurteile entwickelt bzw. übernommen werden. Vorurteile haben aber auch ihre Wurzeln in Lebenssituationen, die lange zurückliegen. Die Situationen sind heute anders; aber die Vorurteile sind deshalb noch lange nicht verschwunden.

 

Ich will das am Beispiel meiner Behinderung, Blindheit, verdeutlichen: In der Steinzeit, als die Menschen noch Jäger und Sammler waren, konnte der blinde Mensch wenig zum Erhalt der Sippe beitragen. Auch Gefahren, zum Beispiel durch wilde Tiere, konnte er oft erst erkennen, wenn es schon zu spät war. Die Vorstellung, dass ein blinder Mensch also hilflos sei, war damals realistisch. Die Lebenssituation der Menschheit, auch ihrer behinderten Exemplare, hat sich inzwischen sehr grundlegend verändert; das Vorurteil des hilflosen blinden Menschen ist aber nach wie vor fest in der Gesellschaft verwurzelt!

 

Die oben erwähnten Hemmungen im Umgang miteinander bestehen jedoch nicht nur auf Seiten der „Nicht-Betroffenen“. Auch behinderte Menschen haben - vor allem, wenn sie vorwiegend unter anderen Behinderten aufgewachsen sind - Hemmungen, mit Nicht-Behinderten umzugehen. Vielleicht ist das bei denjenigen nicht ganz so stark ausgeprägt, die integriert beschult werden; hier liegt jedoch eine andere Gefahr: Es fehlt häufig am Umgang mit ihresgleichen; sie erleben sich also immer wieder nur als „Ausnahmesituation“; und es fehlt die Vorbildfunktion, die von anderen Menschen mit der gleichen oder ähnlichen Behinderung ausgehen kann.

 

Ich wurde in speziellen Schulen für Blinde unterrichtet. Dort gab es blinde Mitarbeiter, die mir als Vorbild dafür dienen konnten, wie man auch als behinderter Erwachsener im Leben stehen kann. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Kritikfähigkeit konnte ich auch erkennen, wie ich nicht „integriert“ sein möchte, nämlich mit einem Partner, der bzw. die mir das Leben aus der Hand nimmt.

 

Auch hierfür ein Beispiel, das ich in einem Blindenverein erlebt habe: Ich kam in Begleitung meiner Eltern zur Weihnachtsfeier (ich kannte mich nicht genug in der Gegend aus, um alleine hinzufahren). Da kam die Ehefrau eines älteren Blinden zu ihnen und sagte in weinerlichem Tonfall: „Es ist ja doch schön, dass sie wenigstens das noch haben“. (Mit „sie“ waren „die Blinden“, zu denen ja auch ihr Ehemann gehörte, gemeint; „das“ bezog sich auf die Weihnachtsfeier und die damit verbundene Geselligkeit). Diese Frau war also seit vielen Jahren mit einem Menschen verheiratet, der zu einer Gruppe behörte, die sie zu tiefst bemitleidete - und denen sie sich auch überlegen fühlte. Ihn schien das nicht zu stören, denn er war wahrscheinlich von der Überbehütung durch das Elternhaus in die durch seine Ehefrau gewechselt. Mich hat damals das Grausen gepackt. - Die beiden aber waren, das ist mir heute klar, wahrscheinlich glücklich miteinander: Sie hatte ihr Leben lang ihr Baby, und er konnte sich sein Leben lang bemuttern lassen.

 

Nach dem Abitur war die Zeit meiner „segregierten Beschulung“ zu Ende. Ich hatte das Glück, das Abitur an einer Einrichtung machen zu können, die uns schon damals (späte 60er/frühe 70er Jahre) recht gut zur Selbständigkeit erzogen hat. Dennoch war es wie ein großer Sprung, die „heile Welt“ der speziellen Einrichtung zu verlassen und sich ins richtige Leben zu stürzen.

 

Da ich ein kontaktfreudiger Mensch bin, hatte ich schnell Mit-Studenten kennen gelernt, die mir im Studium halfen (z. B. als Vorleser). Auch im Freizeitbereich haben wir viel zusammen unternommen. Ich war wirklich integriert, und zwar nicht in der Rolle des blinden Kommilitonen, um den man sich als Student im Sozialbereich selbstverständlich kümmern muss.

 

Natürlich gab es auch Versuche, mich zu dominieren. Hierzu hatte ich gleich in den ersten Wochen ein „Schlüsselerlebnis“: Ich wohnte zu dem Zeitpunkt ganz in der Nähe des Psychologischen Instituts, wo ich eine Lehrveranstaltung besuchte. Meine erste Vorleserin kam bei mir vorbei, um mich abzuholen (mein Zimmer lag auf ihrem Weg). Natürlich war sie mir auch im Institut behilflich. Mir selber fiel nichts besonderes auf; aber dann sprach mich eine andere Kommilitonin an, die an der gleichen Vorlesung teilnahm. Sie fragte mich, warum ich mich von meiner Vorleserin so bevormunden ließe: Sie würde bestimmen, wo ich sitze; sie würde mir unnötigerweise beim Ausziehen und nachher Anziehen des Mantels helfen; generell würde sie auch den anderen gegenüber versuchen, sich als die zu präsentieren, die mit mir gut umgehen kann. Mir war das bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal aufgefallen. Ich habe dann darauf geachtet und das Verhalten „abgestellt“. Ich bin jener Kommilitonin sehr dankbar, dass sie hier mein Bewusstsein geschärft hat. Es war wie eine Spritze für mein Selbstbewusstsein. Diese Mitstudentin hatte mich eben nicht als den blinden Kommilitonen, sondern als den Menschen gesehen, der nicht gemäß seinen Fähigkeiten behandelt wurde.

 

Ich höre oft Beschwerden darüber, wie schlecht einige behinderte Menschen von ihren Kollegen oder anderen Personen behandelt werden. Es ist meine Überzeugung, zu der ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen gelangt bin, dass es wesentlich an mir selber liegt, wie meine Mitmenschen auf mich und meine Behinderung reagieren. Wenn die Blindheit für mich ein großes Problem darstellt, mache ich sie damit auch zum Problem derjenigen, mit denen ich zu tun habe; und da sie die Blindheit wahrscheinlich sowieso schon immer für ein großes Problem gehalten haben, stellen sie ihr Denken und Handeln auch nicht mehr in Frage. Wenn die Blindheit - wie es in meinem Falle ist - zwar etwas ist, das zu mir gehört, mit dem ich aber sehr gut leben kann, dann werde ich auch meinen Mitmenschen leichter die Scheu vor mir und meiner Blindheit nehmen.

 

Und das ist eine wichtige Voraussetzung für eine gut funktionierende „Zweierbeziehung“. Es ist unbestritten, dass behinderte Menschen hier sehr benachteiligt sind. Mehr oder weniger unbewusst suchen die meisten Menschen den „perfekten“ Partner, und dazu gehört für sie auch der perfekt funktionierende Körper. Bei blinden Menschen kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: Die Kontaktanbahnung läuft - so sagt man mir - sehr stark über Blickkontakte. Selbst wenn ich ein „Zuzwinkern“ imitieren könnte, werde ich immer noch nicht feststellen können, ob jemand mein Zwinkern erwidert oder von sich aus mir zuzwinkert. Diese Hürde muss also zunächst einmal, zum Beispiel im Gespräch - wo ja der Tonfall oft mehr aussagt, als dem Sprechenden bewusst ist -  überwunden werden.

 

Der Wunsch nach dem (auch körperlich perfekten) Partner besteht natürlich nicht nur auf Seiten der Nicht-behinderten. Ich kenne viele blinde Männer (es sind tatsächlich vorwiegend Männer), die mir sagen: „Für mich kommt nur eine sehende Partnerin in Frage.“ Dass sie damit letztlich auch sich selbst diskriminieren, weil sie zwei Klassen von Menschen schaffen - nämlich die vollwertigen Sehenden und die Blinden, die zweite Wahl sind - kapieren sie meist nicht. Wenn ich selbst nämlich blinde Menschen als zweite Wahl ansehe, dann muss ich auch einverstanden sein, wenn andere mich als nur zweite Wahl ansehen. Ich fürchte, einige von diesen Menschen sehen sich auch selbst nur als zweite Wahl an. Wie dem auch sei, der Schwerpunkt dessen, was hier vom Partner erwartet wird, ist nicht Liebe und Verständnis, sondern in erster Linie die Möglichkeiten, die der nicht-behinderte Partner bietet, das eigene Leben bequemer zu gestalten.

 

Umgekehrt gibt es aber auch die Theorie - und zwar bei Nicht-Behinderten und Behinderten gleichermaßen, dass nur eine behinderte Person der geeignete Partner für eine(n) Behinderte(n) sein kann, weil nur er oder sie den anderen Menschen voll verstehen kann.

 

Ich halte von beiden Theorien nichts, da sie den jeweiligen Partner nur auf einen Teilaspekt seiner gesamten Persönlichkeit reduzieren und die Frage „behindert oder nicht“ zum Hauptkriterium für dessen Beurteilung machen.

 

Der blinde UN-Mitarbeiter Bengt Linquist hat einmal gesagt: „Mein Leben wird durch mich bestimmt und nicht durch meine Blindheit“. Genau dies ist meine Lebensphilosophie, und man könnte sie nicht knapper und besser formulieren. Dazu gehört für mich auch, dass ich mich wegen meiner Behinderung nicht zu schämen, sie also nicht zu verbergen brauche.

 

Und das spiegelt sich auch in meinen „Zweierbeziehungen“ wieder. Für mich hat es nie eine Rolle gespielt, ob eine Frau sehen konnte oder nicht; und so hatte ich sowohl sehende als auch blinde Freundinnen. Dass die Frau, die ich letzten Endes geheiratet habe, blind ist, liegt daran, dass die Person, die mich so sehr angesprochen hat, dass ich zur Heirat bereit war, eben zufällig nicht sehen kann. Die Qualität der Beziehungen mit blinden und sehenden Partnerinnen war ansonsten gleich. Dabei gibt es allerdings eine Ausnahme: Eine meiner sehenden Partnerinnen hat gelegentlich darunter gelitten, dass ich so selbständig war und sie mich nicht mehr „bemuttern“ konnte. Gleichzeitig hat sie sich sehr empört, wenn sie glaubte, bei anderen ein solches Verhalten beobachten zu können. Diese Tatsache war einer der Gründe, warum diese Beziehung letztlich gescheitert ist.

 

Abschließend und zusammenfassend kann ich feststellen: Beziehungen zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten können um so unkomplizierter und unverkrampfter verlaufen, je mehr „beide Seiten“ bereit sind, über ihre eigenen Vorurteile nachzudenken, diese aufzugeben und dann sich und den Partner als volle Persönlichkeit anzusehen und zu akzeptieren. Dann wird die Behinderung zu einer von vielen anderen Nebensachen.

 


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