Wie ich zu Esperanto kam
Würde man Menschen
auf der Straße fragen: "Was halten Sie von Bulgarisch?", würden viele
sicher antworten: "Was soll ich davon halten? Es ist halt eine andere
Sprache", und die meisten wüßten sicher auch, daß es sich um eine
slawische Sprache handelt.
Würde man Menschen
auf der Straße fragen "Was halten Sie von Esperanto?", würden sicher
viele sagen: "Nie gehört. Hat das was mit Spanisch zu tun?" Aber die
meisten von denen, die wissen, was Esperanto ist, würden so etwas sagen wie
"Das ist Quatsch!" Dabei wüßten sie über Esperanto nicht viel mehr
als über Bulgarisch: Sie kennen die Herkunft. Bulgarisch ist eine
"gewachsene" Sprache aus der Familie der slawischen Sprachen.
Esperanto hingegen ist eine "geplante" Sprache, die jemand
entwickelt hat, damit die Menschen in allen Ländern ein Kommunikationsmittel
haben, das sich leicht erlernen läßt und deshalb die Verständigung und das Verstehen
der Menschen untereinander fördern kann.
Dieser
"jemand" war der polnische Augenarzt Dr. Ludwig Zamenhof. Er war jüdischer
Abstammung und mußte in seiner Heimatstadt Bialystok erleben, wie verschiedene
Bevölkerungsgruppen (Polen, Russen, Juden, Deutsche, Litauer), die eigentlich
friedlich in der gleichen Stadt miteinander hätten leben können, sich aufgrund
ihrer unterschiedlichen Muttersprache nicht verständigen konnten und sich
mißtrauisch oder sogar feindselig gegenüberstanden. Das wollte er ändern.
Zamenhof war nicht
der erste, der ein solches Projekt verwirklichen wollte. Es gab vor ihm (und
nach ihm) auch andere, wie z. B. der Philosoph Leibniz, die versucht haben,
eine Weltsprache zu kreieren. Seine Sprache basierte aber auf zwei wichtigen
Grundsätzen, die letztlich dazu beitrugen, daß sie sich gegenüber allen "Konkurrenten"
durchsetzen konnte:
1. Sie sollte leicht (und damit schnell) erlernbar sein.
2. Es gab keine Autorität, die darüber entscheiden sollte,
welche neu entstehenden Wörter nun die richtigen seien. Dies sollte sich aus
dem täglichen Gebrauch ergeben.
Das erste schaffte er
dadurch, daß er eine sehr einfache Grammatik entwarf, die nur aus 16 Regeln
(und keinen Ausnahmen) besteht. Ich kenne jemanden, der die gesamte Esperanto‑Grammatik
auf die Rückseite seiner Visitenkarte gedruckt hat. Darüber hinaus entwickelte
Zamenhof ein Vokabular, das seine Wurzeln aus den wichtigsten europäischen
Sprachen (germanische, romanische und slawische Sprachen) zog. Dabei verwandte
er Worte, die "allgemein bekannt" sind. "Ja" heißt "Jes",
"Nein" heißt "Ne"; wer blind ist, ist "blinda",
und wer jung ist, ist "juna". Dann ließ er sich Silben einfallen, die
die Bedeutung eines Wortes verändern. Ein Beispiel hierfür ist die Vorsilbe
"mal", die ein Wort in sein Gegenteil verwandelt. Wenn
"groß" also "granda" ist, heißt "klein"
"malgranda". Wenn man die entsprechenden Silben kennt, muß man sich
viel weniger Worte merken als bei anderen Sprachen. Die Kenntnis von nur 400
Wörtern reicht aus, um über einen sehr guten Grundwortschatz zu verfügen.
Auch der Name der
Sprache selbst, Esperanto, ist ein Wort aus dieser Sprache; es heißt übersetzt
"der Hoffende". Unter diesem Pseudonym hat Zamenhof im Jahre 1887 das
Buch veröffentlicht, in dem er der Welt seine internationale Sprache vorstellte.
Die neue Sprache
verbreitete sich sehr rasch. Auch unter blinden Menschen fand sie sehr schnell
viele Anhänger. Die erste internationale Organisation von Gruppen der
Blindenselbsthilfe war die der blinden Esperantisten.
Leider gab es für die
Esperanto‑Bewegung drei empfindliche Rückschläge: Der erste Weltkrieg,
der zweite Weltkrieg (wobei die Sprache schon vorher von den Nazis und von
Stalin unterdrückt wurde) und dann der unaufhaltsame Vormarsch der englischen
Sprache. Auf letzteres komme ich später noch einmal zurück. Dennoch gibt es
heute in der ganzen Welt mehrere Millionen Menschen, die diese Sprache
beherrschen und sich mühelos darin verständigen.
Ich hörte bzw. las
zum ersten Mal etwas über Esperanto, als ich zehn oder elf Jahre alt war. In
der Jugendzeitschrift "Die Brücke" gab es einen Bericht (oder war es
sogar eine Beilage), der über diese Sprache informierte. Wir erfuhren, daß man sich
mit Menschen aus aller Welt unterhalten und Rundfunksendungen aus vielen
Ländern, sogar aus Brasilien, hören und verstehen könne. Meine Freunde und ich
waren begeistert! Das wollten wir lernen! Aber unsere Erzieherin konnte unsere
Begeisterung nicht teilen: "Das ist Quatsch! Davon hat man schon geredet,
als ich jung war, aber das hat sich nie durchgesetzt."
1973 lief mir
Esperanto wieder über den Weg, diesmal als Beilage zu der Zeitschrift
"Marburger Beiträge". Hier wurde ein Ausschnitt aus der ersten
Lektion eines Lehrbuchs für Esperanto abgedruckt, und ich war erstaunt, wieviel
davon ich auf Anhieb verstand. Aber ich hatte gerade das Abitur bestanden und
mußte mich auf das bevorstehende Studium vorbereiten, da hatte ich fürs
Sprachen‑Lernen keine Zeit.
Als ich 1983 in den
USA war, hatte ich einen blinden Arbeitskollegen, der, ebenso wie seine Frau,
in der Esperanto‑Gruppe aktiv war. Da Esperantisten auf internationale
Begegnungen und Gäste immer erpicht sind, wurde ich zu einem ihrer Treffen
eingeladen. Natürlich hat man auch versucht, mich für die Sprache zu begeistern
"Wäre es nicht toll, wenn du mit über einer Million deiner Brüder und
Schwestern in der ganzen Welt problemlos reden könntest?". Ich erwiderte:
"Ja; deshalb habe ich
Englisch gelernt und
kann mit Hunderten von Millionen meiner Brüder und Schwestern reden", und
ich fand mich genial.
Immerhin hatte ich
gelernt, daß sich Esperantisten mit "Saluton" (etwa: Grüß Dich)
begrüßen können. Und als ich später zu Hause von einem Funkamateur, den ich
sehr gerne mochte, erfuhr, daß er Esperantist ist, habe ich ihn immer mit
"Saluton" begrüßt. Er hat mir noch mehr Wörter beigebracht, und so
wurde aus dem reinen "Saluton" schnell ein "Saluton mia kara
amico Jakobo" (Grüß Dich, mein lieber Freund Jakob). Er antwortete mir
immer in Esperanto, und einmal sagte er (was ich so einigermaßen verstand), daß
ich sicher auch irgendwann einmal Esperanto
lernen würde.
Bis dahin hatte ich
immer gesagt, daß Esperanto zwar eine gute Sache sei, aber ich würde erst mal
Russisch, Französisch und Spanisch lernen wollen, bevor ich damit anfange. Und
dann fiel mir auf, daß ich weder Russisch, noch Französisch und schon gar nicht
Spanisch lernte. Und da ich Jakob, der damals Mitte 70 war, wirklich sehr gerne
mochte, und da ich mir dachte "Wenn Esperanto so leicht zu lernen ist,
dient es mir als eine Art geistiger Gymnastik", habe ich beschlossen, die
internationale Sprache zu erlernen. Jakob habe ich natürlich nichts davon
erzählt, denn ich wollte ihn überraschen. Ich habe mir beim Esperanto‑Blindenverband,
dessen Adresse ich irgendwo aufgetrieben habe, die Lehrbücher bestellt. Im Mai
1989 kamen sie bei mir an, und ich habe mir die Sprache innerhalb von 3 Monaten
im Selbststudium beigebracht.
Dann kam der große
Moment: Ich hatte die Sommerferien in den USA zugebracht, und dort die letzten
der insgesamt 12 Lektionen des Lehrbuchs durchgearbeitet. Am 15. August ‑
im Saarland ein Feiertag ‑ hörte ich Jakob in unserer Morgenrunde und
begrüßte ihn (natürlich auf Esperanto): "Einen schönen guten Morgen, mein
lieber Freund Jakob. Ich freue mich, Dich nach langer Zeit wiederzuhören, und
hoffe, daß es Dir gut geht." Sein glückliches Lachen werde ich nie
vergessen. Seine Prophezeiung hatte sich erfüllt.
Natürlich trafen wir
uns in den nächsten Monaten regelmäßig mehrmals in der Woche auf dem 2‑Meterband
(ein Amateurfunkband im UKW‑Bereich), damit
ich mein Esperanto
üben konnte.
Als im September 1989
die Blindenschule Lebach 40 Jahre alt wurde, kamen natürlich viele ehemalige
Schüler und Schülerinnen, um mit uns zu feiern. Eine von ihnen war Anne‑Bärbel.
Über einen Bekannten hatte sie erfahren, daß ich Esperanto lerne. Sie selbst
beherrscht auch diese Sprache und hat dadurch sogar ihren Ehegatten
kennengelernt. Sie brachte mich mit dem damaligen Vorsitzenden der
saarländischen Esperanto‑Liga in Verbindung, der gerade einen
Anfängerkurs organisierte und mich einlud mitzumachen. Er hat inzwischen oft
lachend die Geschichte erzählt, wie ich ihm am Telefon gesagt habe "Ich
will das eigentlich gar nicht ernsthaft betreiben; ich hab' das nur als
Denksport nutzen wollen". Gelacht hat er deshalb, weil ich später
derjenige von seinen Anfängern war, der sich mit dem meisten Eifer der Sprache
gewidmet hat.
Was mich dann
wirklich überzeugt hat, war die Literatur, die mir plötzlich zur Verfügung
stand. Da waren Punktschriftzeitungen aus der Tschechoslowakei (die gab es
damals noch), aus Jugoslawien, Bulgarien und Polen, die ich jetzt zugeschickt
bekam. Die Artikel darin waren entweder Übersetzungen von Zeitschriftenartikeln
der entsprechenden Länder oder Originalbeiträge, die für diese Zeitschriften
geschrieben wurden. Ich konnte also Beiträge aus anderen Ländern lesen und das
teilweise in der Originalsprache, in der sie geschrieben wurden. Darüber hinaus
gab es natürlich die viermal jährlich erscheinende Zeitung des deutschen Esperanto‑Blindenverbandes
und die Monatszeitschrift der internationalen Liga blinder Esperantisten.
Auch der Amateurfunk
hat mir sehr geholfen. Jakob hatte mir von der internationalen Liga Esperanto‑sprechender
Funkamateure berichtet und mir empfohlen, einfach mal bei einer Funkerrunde
dieser Gruppe zuzuhören. Das habe ich getan und dabei festgestellt, daß ich
Charles aus Südfrankreich ebenso gut verstand wie Genadi aus Sibirien oder Laci
aus Ungarn. Noch bevor die Runde sich für diesen Tag auflöste, wagte ich den
Sprung ins kalte Wasser und meldete mich. Und hier fiel mir wieder eine schöne
Sache auf: Obwohl die meisten in der Runde Esperanto besser beherrschten als
ich, störte sich keiner daran, wenn ich etwas länger nach Worten suchen mußte
oder mir eines gar nicht einfiel. Irgendwann einmal waren sie ja alle in der
gleichen Position gewesen.
Die Funkerrunden
haben mir immer großen Spaß gemacht. Erwähnt sei nur noch, daß ich mich bereits
sieben Monate nachdem ich angefangen hatte, die Sprache zu lernen, mit einem
Franzosen über Akupunktur unterhalten konnte. Ich glaube nicht, daß ich in
einer anderen Sprache so schnelle Fortschritte hätte machen können.
Drei abschließende
Bemerkungen möchte ich noch machen:
1. Mir wird oft entgegengehalten: "Englisch ist die
Weltsprache. Euer Esperanto setzt sich nie durch." Mag sein; aber würden
alle, die das sagen, anfangen, die Sprache zu lernen, sähe es schon ganz anders
aus. Die Esperantisten sagen: Es darf nie eine Nationalsprache zur Weltsprache
werden, weil dann diejenigen, die diese Sprache als Muttersprache haben, immer
den anderen gegenüber im Vorteil sind. Alle wichtigen Werke werden z. B. ins
Englische übersetzt. Was aber macht ein Mensch in der Mongolei, der kein
Englisch beherrscht? Er kann nicht warten, bis alle wichtigen Werke in seine
Sprache übersetzt werden, denn das wird nicht so schnell passieren. Wir dürfen
auch nicht vergessen, daß die englische Sprache für uns Deutsche
verhältnismäßig leicht zu erlernen ist, Japaner haben es da viel schwerer. Und
wie lange wird Englisch noch die Weltsprache bleiben? Abgesehen davon, daß 1/5
der Menschheit ohnehin eine Variante des Chinesischen spricht, ist auch der
Einfluß der spanischen Sprache stark im Wachsen, und das vor allem in einem
englischsprachigen Land, den USA. Was passiert mit der Weltsprache Englisch,
falls die USA einmal "kippen" und ein spanischsprachiges Land werden?
2. Wer sich so sehr für internationale Verständigung
interessiert, daß er eine Plansprache erlernt, um die Verständigung zu fördern,
der ist auch sehr am Weltfrieden interessiert. Die Esperanto‑Literatur
ist also eine sehr friedliebende Literatur und genauso sind auch die Menschen,
die die Weltsprache beherrschen. Die Atmosphäre bei einem internationalen
Treffen von Esperantisten läßt sich nur schwer beschreiben. Am besten, man
erlebt sie selbst.
3. Im Sommer 1999 findet in Berlin der alljährliche
internationale Kongreß blinder Esperantisten statt. Wer jetzt noch anfängt, die
internationale Sprache zu lernen, kann bis zum Sommer soweit kommen, daß sie/er
sich mühelos mit den Gästen aus vielen Ländern verständigen kann.
Lehrmaterial und
weitere Informationen gibt es bei:
Esperanto‑Blindenverband
Deutschland, Theo Speckmann, Trierer Straße 45,
50674 Köln, Tel.:
0221/24.34.96.
Norbert Müller
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