Welches sind die unverzichtbaren Grundpositionen der Blindenbildung auch und gerade vor sozialem und technologischem Wandel?                       

 

 

(Vorbemerkung: Der folgende Text ist die nur leicht überarbeitete Abschrift meines Vortrages. Ich habe diesen aufgezeichnet und mich       beim Abschreiben bemüht, den Charakter der Rede beizubehalten und sie nicht im Stil einer theoretischen Abhandlung wiederzugeben.)

 

 

 

Wenn man sich einen blinden Schüler einmal genauer betrachtet, stellt man fest: Er ist ein armer Mensch. Er ist deswegen ein armer Mensch, weil er sich all das aneignen muß, was andere Schüler auch im Rahmen ihrer Schulausbildung lernen, denn er soll ja keine schlechtere Schulbildung erhalten als diese. Zusätzlich muß er aber noch einige Dinge mehr lernen:

 

‑ Wie man sich zurechtfindet und orientiert, das lernen andere automatisch, der blinde Schüler muß es trainieren.

 

‑ Er muß eine andere Schrift lernen. Eine Schrift müssen sich andere Schüler auch aneignen; Er muß aber irgendwann im Laufe seiner Schulzeit eine Kurzschrift büffeln.

 

‑ Er muß sich gewisse Dinge im Bereich dessen, was wir im Blindenwesen allgemein als "lebenspraktische Fertigkeiten" bezeichnen, zusätzlich aneignen. Andere müssen das auch lernen, aber bei ihnen geht vieles mit "abgucken", während man dem blinden Schüler diese Dinge richtig   vermitteln muß.

 

Das alles sind Dinge, die teilweise sehr zeitintensiv sind, so daß man sich oft fragt, wann haben blinde Kinder noch Zeit, die sie als Freizeit verbringen können? Und selbst da gibt es auch wieder etwas zu lernen: verschiedene Freizeittechniken. Darauf werde ich später nochmals eingehen.

 

Das wichtigste für uns alle, darin werden mir alle blinden Menschen, die selbständig im Leben stehen, zustimmen, bleibt die Brailleschrift. Leider treten immer wieder dann, wenn es eine technische Neuerung gibt, irgendwelche Leute auf und sagen: "Das ist jetzt das endgültige Ende der Brailleschrift. Jetzt haben die Blinden diese wunderbare Technologie." Dieses Phänomen kann man weltweit beobachten. Es fing an, als die ersten Tonbandgeräte oder Kassettenrecorder aufkamen, das ging so weiter, als das Optacon auf den Markt kam und das ist jetzt im Bereich der Computertechnik so. Man sagt: "Jetzt braucht man die Brailleschrift nicht mehr, jetzt haben die Blinden ja all diese wunderbaren Geräte. Und gerade mit dem Computer können sie ja gleich die Schrift schreiben, die die Sehenden auch benutzen. Sie brauchen also diese Schrift, die sie eigentlich von anderen isoliert, nicht mehr." Dieser Vorwurf gegen die Brailleschrift ist so alt wie diese Schrift selbst. Man hatte ihn irgendwann für erledigt gehalten, aber er kommt wieder.

 

Ich habe vor kurzem eine Untersuchung aus den USA gelesen. Man hat dort ‑ wo die Arbeitslosenrate bei Blinden im erwerbsfähigen Alter bei über 70 % liegt ‑ eine Untersuchung gemacht über die Brailleschriftkenntnisse derjenigen, die es geschafft haben, einen Beruf zu finden. Man hat festgestellt, daß 90 % derjenigen, die beruflich erfolgreich sind, die Brailleschrift beherrschen. Und man hat interessanterweise auch festgestellt, daß in Puncto berufliche Integration, aber auch bezogen auf die Einkommensverhältnisse, die Blinden, die die Brailleschrift beherrschen, den hochgradig Sehbehinderten, die diese Schrift nicht gelernt haben, überlegen sind.

 

Brailleschriftleser haben also bessere Berufs‑ und Aufstiegschancen. Das ist ein wesentlicher Punkt, den ich heute herausstellen möchte. Ich glaube und habe es selbst beobachtet, daß häufig der große Denkfehler gemacht wird, daß man sagt: "es wird 100 mal so viel Literatur in

Schwarzschrift gedruckt wie in Brailleschrift. Also, wer die Schwarzschrift noch irgendwie lesen kann, den soll man auf Schwarzschrift trimmen, so gut es geht. Die Brailleschrift braucht er nicht." Daran stört mich zunächst der herabwürdigende Tonfall, der mehr oder weniger unbewußt mitschwingt: "man braucht es nicht", oder "man ist auf die Brailleschrift angewiesen" ‑ als ob das so etwas Schreckliches wäre, das man möglichst vermeiden sollte. Man tut den hochgradig Sehbehinderten aber, wie diese Statistik deutlich zeigt, keinen Gefallen. Man hört des öfteren, wenn man mit Betroffenen spricht oder Publikationen liest, in denen Betroffene sich zu Wort melden, die Klage: "Hätte ich nur rechtzeitig Brailleschrift gelernt. Ich könnte heute wesentlich schneller lesen ‑ heute, da mein Sehrest (teilweise wider Erwarten) doch noch einmal zurückgegangen ist. Oder es gäbe viele Situationen, in denen ich mich wohler fühlen würde; beispielsweise, wenn ich eine Rede halte und könnte frei in das Publikum reden, anstatt den Text "mit der Nase" zu lesen".

 

Deswegen ist eine wichtige Forderung, die wir aufstellen müssen, daß man auch den hochgradig Sehbehinderten die Brailleschrift beibringt. Sie können dann selbst entscheiden, in welcher Situation sie die eine Schrift bevorzugen oder in welcher die andere. Denn: was nutzt es mir, wenn ich eine halbe Stunde Schwarzschrift lese, dann aber wegen Überanstrengung meiner Augen stundenlang Kopfschmerzen habe und schon deshalb nicht mehr weiterlesen will. Ich kenne einige Personen, die mir diese Erfahrung berichtet haben.

 

Ein sehr wichtiger Punkt in bezug auf die Brailleschrift ist das Schreiben auf unserer guten alten Braill'schen Tafel, die es ja in ‑zig Formen gibt. Als ich zur Schule ging, war es noch so, daß wir von Anfang an gelernt haben, mit der Tafel zu schreiben. Niemand hat uns gesagt, daß das Tafelschreiben sehr kompliziert ist, weil wir die Buchstaben ja spiegelverkehrt schreiben müßten. Wir haben einfach gewußt: Ich lese von links nach rechts, ich schreibe mit der Tafel von rechts nach links. Das war für uns von vornherein so selbstverständlich, daß der Gedanke, daß Tafelschreiben etwas kompliziertes wäre, uns im Prinzip nie gekommen ist.

 

Auch hierzu ein Beispiel: Ich habe vor 6 Jahren an der Konferenz der Europäischen Blindenunion für  Mehrfachbehinderte teilgenommen. Ich hatte die Aufgabe, am Freitagmorgen als Moderator durchs Programm zu führen. Wenn ich durch ein Programm führen soll, muß ich ja auch irgendwie das Programm kennen. Leider gab es bei der Konferenz keinerlei Unterlagen in Punktschrift. (ich hoffe und setze mich dafür ein, daß es das in der Geschichte der Europäischen Blindenunion nicht mehr geben wird!) Da ich auch dieses schöne Braille Lite nicht hatte, das hier vor mir liegt und das ja eine Braillezeile hat, blieb mir nichts anderes übrig ‑ und ich habe es gerne getan ‑ als die Tafel aus der Tasche zu ziehen und das Programm aufzuschreiben. Und somit konnte ich dann durch das  Programm führen. Ich habe damals zu den Pädagogen gesagt: "Geht nach Hause und sagt all euren Schülern, sie mögen vielleicht fluchen, weil sie meinen, die Tafel sei komplizierter zu nutzen und es strengt mehr an, als auf der Punktschriftmaschine zu schreiben; aber auch im Zeitalter von High Tech gibt es nur ein Hilfsmittel, das wir zum Schreiben haben, das immer zuverlässig arbeitet, und das wir immer mit uns herumtragen können. Und das ist eben unsere Tafel.

 

Es gibt ein gern gebrauchtes Gegenargument gegen die Behauptung, die neuen Technologien machen jetzt die Brailleschrift überflüssig. Dieses Argument ist: "Die neuen Technologien stehen sehenden Menschen auch zur Verfügung. Würde man jetzt hingehen und sagen, sie brauchen keine Bücher mehr? Sie werden in Zukunft alles über den Computer lesen? Sie brauchen keine Zettel mehr, um irgend etwas aufzuschreiben? Sie brauchen keinen Kugelschreiber mehr, denn sie haben ja wunderschöne kleine, tragbare Computer, mit denen sie das alles tun können?" Ich glaube, auf so eine verrückte Idee käme keiner. Warum meint man dann, den Blinden sagen zu müssen, daß ihre Mittel, die sie sich zum Teil ja selber geschaffen haben ‑ wir wollen nicht vergessen, daß Louis Braille selber blind war ‑ jetzt nicht mehr aktuell wären. Und Tafeln ‑ wenn ich das nochmals am Rande erwähnen darf ‑ gibt es in allen möglichen Größen; wenn ich heute keinen Anzug anhätte, hätte ich eine in der Hosentasche. Aber so habe ich sie in der Jackentasche. Sie ist so klein, daß man sie sehr gut mit sich herumtragen kann.

 

Noch ein anderer Gesichtspunkt: Mir hat einmal ein Späterblindeter gesagt daß er sich dadurch, daß er gleich das Tafelschreiben gelernt hat, viel besser von Anfang an die Form der Buchstaben einprägen konnte. Er wäre sehr froh, daß er erst die Tafel und erst dann die Punktschriftmaschine gehabt hätte. Vielleicht ist er ein Einzelfall, ich will mich da nicht festlegen, aber ich fand den Gedanken interessant. Es wäre sicher lohnend, einmal wissenschaftlich zu untersuchen, ob das Einprägen der Buchstaben für diejenigen, die zunächst mit der Tafel schreiben, einfacher ist als für diejenigen, die mit der Punktschriftmaschine anfangen. Aber es dürfte schwierig werden, genügend große Vergleichsgruppen zusammenstellen zu können. Trotzdem halte ich das für ein interessantes Thema für eine Dissertation.

 

Wenn ich von Brailleschrift spreche und davon, daß man Kinder darin unterrichten sollte, dann meine ich damit ‑ und auch das muß ich leider inzwischen deutlich sagen ‑ 6‑Punkte‑Braille. Wir hatten in diesem Frühjahr eine Sitzung, in der es darum ging, daß in einem Bundesland die Kinder im ersten Schuljahr nicht mehr im 6‑Punkte‑Braille unterrichtet werden sollen. Man bringt ihnen von Anfang an die 8‑Punkte‑Brailleschrift (Computerbraille) bei. Wir von der Blindenselbsthilfe halten das für bedenklich. Hierin waren sich alle bei der Sitzung anwesenden Vertreter der Blindenselbsthilfe einig.

 

Ein Grund ist, daß es fraglich ist, ob die 8‑Punkte‑Zelle von ihrer Größe her den empfindlichen Teil am Finger nicht zu sehr übersteigt, so daß automatisch ein Auf‑ und Abtasten der Zelle passiert, was nicht sein sollte. Der zweite Grund ist, daß das Angebot an Literatur, das zur Verfügung steht, vorwiegend in 6‑Punkte‑Braille gedruckt ist. Wenn wir uns vorstellen, ein Kind kommt dann ins fünfte Schuljahr und lernt jetzt die Kurzschrift (auf die wir auch nicht verzichten wollen, denn sie steigert unser Lese‑ und Schreibtempo enorm). Dieses Kind erfährt jetzt plötzlich, daß zum Beispiel das Zeichen, das aus den Punkten 1, 5 und 6 besteht, nicht mehr, wie es das jahrelang gewohnt war, für die Zahl 5 steht. Die soll es jetzt als Zahlenzeichen‑e schreiben, denn die Punkte 1, 5 und 6 stehen nun für die Zeichenfolge 'sch. Und dieses SCH‑Zeichen bedeutet, wenn es alleine steht, auch noch das Wort "Schon". Ob dieses Kind der Kurzschrift sehr aufgeschlossen gegenübertreten wird, das bleibt abzuwarten.

 

So wurde denn auch vom Vertreter des Kultusministeriums gesagt: "Wir machen das jetzt erst mal, und wenn die Kinder an die Kurzschrift kommen, dann werden wir ja sehen, wie das ist." Das klingt für mich ein bißchen so, als ob man sagen würde: "Wir machen es jetzt mal, und wenn das Kind dann in den Brunnen gefallen ist, stellen wir fest, wir hätten es eigentlich nicht reinplumpsen lassen dürfen."

 

Wichtig ist auch, daß die Lesefreude gesteigert wird. Nun wissen wir alle: Es gibt die tollsten Kinderhörspiele auf Kassette. Ich habe heute morgen bereits den Pumuckl erwähnt, den wir alle kennen und lieben. Als ich im Internat in Lebach gearbeitet habe, haben wir festgestellt, daß die Schüler in der Internatsbücherei mit Leidenschaft Kassetten ausleihen, daß an den Punktschriftbüchern aber relativ wenig Interesse besteht. Mir hat damals aufgrund einer entsprechenden Anfrage der Leiter der saarländischen Blindenhörbücherei gesagt, daß es keine Regel gibt, warum er einen blinden Schüler, der Mitglied werden möchte, nicht aufnehmen sollte. Jedoch: "Die sollen Punktschrift lesen. Hörbücher können sie später immer noch hören. Zuerst sollen sie aber mal ein vernünftiges Lesetempo kriegen." es ist eben leider der Fluch: Eine Kassette hört man sehr schnell ‑ und wenn es ein Hörspiel ist, ist es ja auch noch viel spannender ‑ während man die Punktschrift am Anfang langsam liest. Man muß erst einmal über den Berg drüber, bevor man dann so richtig über das Papier sausen kann, so wie man das gerne hätte. Es ist deshalb eine wichtige Forderung, daß man sich verstärkt überlegen soll, wie kann man die Lesefreude der Schüler wecken? Wie kann man sie dazu bringen, daß sie mehr lesen?

 

Eine Möglichkeit dazu wäre natürlich auch, daß man interessante Werke für sie druckt. Wie mir Peter Brass aus Berlin erzählt hat, drucken sie an der Schule, an der er arbeitet, wenn sie Druckkapazitäten frei haben, auch mal einen Artikel aus der "Bravo" ab. Egal, was wir von der "Bravo" halten, die Jungen wollen das lesen; und er sagt, die Hefte werden ihnen  buchstäblich aus der Hand gerissen.

 

Noch ein letztes Wort zu diesem Thema. Es ist immer wieder interessant, wenn einem Leute, die nie selbst lesen, sondern immer nur Hörbücher hören und am Computer nur mit Sprachausgabe arbeiten, Briefe oder sonstige Texte schreiben. Man findet überdurchschnittlich viele Fehler, nicht nur in bezug auf Kurzschriftfehler, die ja jeder macht, sondern auch bezüglich Rechtschreibung. Es gibt auch Fälle (gerade heute, wo viele ins Internet schreiben), in denen solche Texte öffentlich zugänglich sind. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn hier der Eindruck erweckt wird: "Blinde Menschen haben eine grauenhafte Rechtschreibung. Die stellen wir lieber erst gar nicht ein." Diese Gefahr sollte man auf keinen Fall übersehen.

 

Ein Wort zum Thema Notenschrift: Ich habe vor kurzem mit Entsetzen gehört, daß man versucht, davon wegzukommen, die Blindennotenschrift zu unterrichten, da man ja die "reguläre" Notenschrift so schön tastbar darstellen kann. Abgesehen davon, daß es relativ aufwendig sein dürfte, diese herzustellen, gibt es ganze Klavierwerke, die in Punktschriftnotenschrift darstellbar sind ‑ in einer Schrift, die der blinde Louis Braille geschaffen hat, und die sich im Laufe der Jahre ein wenig modifiziert hat, ausgehend von den Erfahrungen und den Bedürfnissen derer, die sie nutzen, also blinder Musiker. Wie will man solche Werke in eine "Reliefschrift" umsetzen? Wie umfangreich (im wahrsten Sinne des Wortes) werden solche Werke sein? Blinde Musiker betonen deshalb immer wieder: Auf die Brailleschrift‑Notenschrift können wir nach wie vor nicht verzichten. Es ist eine ganz tolle Sache, wenn ich ein Keybord habe, und wenn ich nach Kassette und nach Gehör lernen kann. Wenn ich nur musizieren will für den Hausgebrauch, dann mag das auch genügen, aber wer ernsthafter Musik betreiben will ‑ und dazu zähle ich schon die Leute, die in einem Chor mitsingen ‑ denen wäre es eine sehr große Hilfe, wenn sie die Notenschrift zumindest soweit beherrschen würden, daß sie Melodien lernen könnten. Leider ist diese Schrift sehr stark im Schwinden begriffen, und ich denke mir, wir müßten mehr Anstrengungen unternehmen, um sie zu fördern. wenn ich in diesem Zusammenhang "wir" sage, meine ich damit nicht nur diejenigen, die beruflich die Schrift vermitteln, sondern ich meine auch die Blindenselbsthilfe, ich meine auch unsere Musiker, die die Schrift selber nutzen, und es vielleicht versäumt haben, sie in das öffentliche Bewußtsein zu rücken, damit dieser Schrift die Anerkennung zukommen kann, die sie verdient.

 

Wir haben heute morgen gehört, welche Ergebnisse erzielt werden können, wenn in einer Schule ein sehr guter Musikunterricht abgehalten wird. Ich glaube, es gab keinen im Saal, der nicht begeistert war von den musikalischen Darbietungen, die wir gehört haben. Ich denke, daß der Musikunterricht auch ein sehr wesentlicher Bestandteil von dem sein muß, was man blinden Schülern vermittelt. Ich glaube, dieser Bereich wird an vielen Schulen heute unterbewertet. Das liegt vielleicht daran, daß man sich nicht vorwerfen lassen möchte, das Stereotyp, wonach blinde Menschen musikalischer sind als andere, vertiefen zu wollen. Wir alle wissen, daß es ein Stereotyp ist, denn die meisten der bedeutenden Musiker waren eben nicht blind. OK, wir haben Steevie Wonder, aber die Größten (Jimmie Hendrix, John Lennon und Pete Seeger) sind sehend. Es ist also nicht wahr, daß Blinde von Natur aus eine besondere musikalische Begabung hätten. Aber wir befassen uns mehr mit dem Gehör, und die Musik ist eine Muse oder eine Kunst, die uns mehr zugänglich ist als alles andere. Selbst wenn wir ein Bildhauerwerk betasten dürfen, dann gibt es doch sehr wesentliche Dinge, die uns verborgen bleiben ‑ Vielleicht, weil wir nie richtig gelernt haben, mit dieser Art von Kunst umzugehen ‑ während sich die Musik uns voll erschließt.

 

Der blinde Musiker hat es natürlich genauso schwer, wenn er Berufsmusiker ist, wie der sehende Berufsmusiker. Dennoch, so wurde einmal auf einer Konferenz der Europäischen Blindenunion deutlich festgestellt: viele Berufe, die Blinde und Sehbehinderte heute noch ausüben, sind durch den technischen Fortschritt und andere Bedingungen ‑ auch durch den sozialen Wandel ‑ bedroht. Für den Bereich der Musik trifft das sehr wenig zu. Die Musik ‑ wenn jemand sehr gute Fähigkeiten auf diesem Gebiet hat, sei es, daß er in einem Chor singen kann oder selber irgendwo mitmusiziert ‑ kann, wie ich heute morgen schon sagte, die Integration im späteren Leben, oder auch schon im Schülerleben, wesentlich fördern. Und nicht zuletzt ‑ das sollte in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit unter Blinden und Sehbehinderten bedacht werden ‑ kann derjenige, der zum Beispiel gut Keybord spielen kann, sich am Wochenende bei Vereinsfesten und Hochzeiten einen guten Pfennig dazuverdienen.

 

Der nächste Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist Sport. An den Blindenschulen wird, so hoffe ich, und so war es zumindest bei uns in Lebach, der Sportunterricht noch sehr stark betrieben und gefördert. Ich denke, daß die Bedeutung des Sports nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Sport hat nämlich mehrere Vorteile: Zum einen dient er der körperlichen Ertüchtigung, zum zweiten fördert er eine gute Haltung, (wenn ich sie nicht habe, so liegt es sicher zum Teil daran, daß ich zu faul oder zu gestreßt bin, um mich dem Sport zu widmen), und das Dritte und ganz Wesentliche: Er baut Ängste ab. Irgendwie war das schon immer erschreckend, wenn man da an diesem komischen Barren hochspringen mußte, und nicht wußte, haue ich mir jetzt das Schienbein oder das Knie daran an; wobei man, wenn man es richtig gemacht hat, sich eben gar nicht weh getan hat ‑ jedenfalls nicht sehr oft. Ich glaube, dieser Gesichtspunkt ist sehr wichtig auch in bezug auf das Mobilitätstraining. Auch wer täglich mit dem Langstock unterwegs ist, und da kommen wir noch drauf, steht vor dem Problem, daß er irgendwie seine Ängste überwinden muß. Dieser Nebeneffekt, den der Sportunterricht hat, wird oft übersehen, aber ich halte ihn für einen der wichtigsten.

 

Was nicht vergessen werden darf, sind die Sportarten, die sich Blinde selber geschaffen haben, oder die sich engagierte Blindenpädagogen und ‑freunde ausgedacht haben. Es ist natürlich schön, wenn ich Gymnastik oder so etwas machen kann, aber ein Sport, der auf Wettbewerb beruht, (worin ja für viele ein großer Reiz liegt), ein Sport, der mir als blindem Menschen gleichberechtigte Chancen gibt, wo ich nicht gegenüber anderen benachteiligt bin, das ist doch eine tolle Sache, für das Selbstwertgefühl, und einfach, weil es viel Spaß macht! Und dazu gehört zum Beispiel "Torball", der in vielen Schulen mehr gefördert werden müßte. Besonders schwierig ist das natürlich bei Kindern, die integriert beschult werden: die haben wahrscheinlich überhaupt keine Torballpartner. Vielleicht würde man sie finden, wenn man diese Sportart an ihrer Schule mal bekannt machen würde. Die Mitschüler müßten sich die Augen verbinden. Die blinden Schüler könnten gegenüber ihren Mitschülern, denen sie sonst in vielen Punkten unterlegen sind (oder scheinen) plötzlich mal so richtig glänzen. Das wäre eine sehr wichtige und wertvolle Erfahrung. Und wenn die blinden Schüler erst mal gut genug sind, um an bundesweiten Wettbewerben teilzunehmen, kommen sie automatisch mit anderen blinden und sehbehinderten Menschen in Kontakt. Auf die Bedeutung dessen werde ich gleich noch einmal eingehen.

 

Stichwort Mobilitätstraining: Hier ist es ähnlich wie bei der Punktschrift. Man hört immer wieder über irgend welche technischen Wunder, die es jetzt gibt, z. B. ganz raffiniert ausgeklügelte Ultraschallgeräte, wo man den Unterschied zwischen einem Baum und einem Auto hört ‑ ein Gerät, das in dieser Version gar nicht mehr weitergebaut wurde. Aber es hat sich immer wieder gezeigt, daß das eigentliche und wichtigste, das wir im Mobilitätstraining haben, ein Low‑Tech‑Gerät ist: unser Langstock. Das beste Ultraschallgerät oder  Satellitennavigationssystem konnte die Notwendigkeit des Stockes nie ersetzen. Kein anderes Gerät kann uns die Vielfalt an Information bieten, die uns der Stock gibt.

 

Ich habe einmal einen Bericht über ein Projekt gesehen, das aus Mitteln der Europäischen Union gefördert wurde, indem es um Satellitennavigationssysteme ging. Da ja der Blinde eigentlich nicht so viel Zeug mit sich herumschleppen will ‑ wenn man blind wird, verliert man gleichzeitig einen Arm, nämlich den, in dem man den Stock hält ‑ hatten die Experten dort eine Jacke entworfen ‑ so habe ich es mir beschreiben lassen ‑ in die die Antenne integriert war. Wenn ich mir vorstelle, ich würde so durch die Stadt rennen! Ich glaube, dann haue ich mir lieber mal den Kopf an einem Pfosten oder einem Lastwagen an, was vielleicht alle zwei Jahre einmal vorkommt, als daß ich wie ein Roboter durch die Landschaft renne. Ich habe einmal einen schönen Text gelesen, der vor vielen Jahren in der "Gegenwart" stand (vielleicht hieß sie damals noch "Blindenselbsthilfe"), das ist das Organ des Deutschen Blinden‑ und Sehbehindertenverbandes. Dort wurde beschrieben, wie ein blinder Mann abends nach Hause kommt, und wie er dann all seine Ultraschall‑, Satellitengeräte, und was er sonst noch alles mit sich hatte, abschnallt und sich dann traurig überlegt: Die Geräte helfen mir alle enorm, aber es war doch auch noch schön, als ich früher direkt mit meinen Mitmenschen kommunizieren konnte. So überspitzt diese Geschichte ist, sie hat mir sehr zu denken gegeben.

 

Auch hier muß ich, ähnlich wie bei der Brailleschrift, darauf hinweisen, daß es viele hochgradig Sehbehinderte gibt, die von einem Langstocktraining profitieren können. Ich kenne Menschen mit Sehbehinderungen, die z.B. abends nicht gerne auf die Straße gehen, weil sie zu schlecht sehen, oder die bestimmte Lokale nicht aufsuchen (ich meine nicht eine bestimmte Gattung von Lokalen), in denen es einfach zu dunkel ist. Sie vermeiden beispielsweise ein Speiserestaurant, in dem vorwiegend Kerzen auf dem Tisch stehen, weil sie sagen, ich sehe dann nichts mehr, ich komme da nicht zurecht. Diese Menschen haben Lebensqualität verloren, dadurch, daß sie nicht gelernt haben, daß es Situationen gibt, in denen ihnen der Stock enorm weiterhelfen könnte. Aber ich kenne zum Glück auch Sehbehinderte, die das selber erkannt und gefordert haben, Mobilitätstraining zu bekommen.

 

1986 habe ich in San Francisco an einem interessanten Projekt teilgenommen. Es gab an der Universität im Rahmen der Universitätssommerferien Fortbildungskurse für Blinden‑ und Sehbehindertenpädagogen. Es wurden zwei Blinde ausgesucht, von denen man wußte, daß sie überall in San Francisco unterwegs sind, daß sie sich also gut zurechtfinden. Ich hatte die Freude, einer der beiden sein zu dürfen. Man hat uns eine Aufgabe gegeben: Wir mußten zu einem bestimmten Ort gehen. Hinter uns gingen Mobilitätslehrer her und beobachteten uns ‑ Nicht, um uns hinterher zu sagen, was wir laut ihren Lehrbüchern alles falsch gemacht haben, sondern um zu sehen, was wir von dem anwenden, das sie in ihren Lehrbüchern gelernt hatten und was wir anders machen. Hinterher konnten sie uns nach den Sachen fragen, die ihnen aufgefallen sind.

 

Es war hochinteressant für diese Lehrer. Wir haben einiges so gemacht, wie es in ihren Büchern nicht stand. Was auch für sie entscheidend war, war die Tatsache, daß Mike und ich viele Dinge auch voneinander unterschiedlich gemacht haben, und trotzdem in gleicher Weise an das Ziel gekommen sind. Das Ziel war dummerweise eine Bäckerei, in die wir gehen sollten, um das ganze mit einem Kaffeetrinken abzuschließen, und wir haben das Ziel beide verfehlt, weil die Bäckerei an diesem Tag zu hatte. Wir hatten sie zwar am Geruch gefunden, dachten aber, wir wären falsch, weil die Tür verschlossen war. Der interessante Gesichtspunkt an diesem Experiment war für die  Mobilitätslehrer: "wir sehen immer nur das, was im Werden ist, und wir kennen das, was wir beibringen wollen, aber wie sich das im Leben dann "zurechtschleift" ‑ und da ist manches dabei, was für uns auch interessant und nützlich sein könnte ‑ das sehen wir nie." Deswegen ‑ und das ist eine Forderung, auf die ich am Schluß nochmals eingehen werde ‑ ist es sehr wichtig, daß wir nicht "nebeneinander herwirtschaften" ‑ hier die Blindenselbsthilfe ‑ hier die Hauptberufler ‑ sondern, daß wir gegenseitig miteinander umgehen, daß wir zusammenarbeiten, und es ist wichtig, daß gerade auch Blinden‑ und Sehbehindertenpädagogen verstärkt den Kontakt mit der Blindenselbsthilfe, mit unseren Organisationen, und ihren früheren Schülern suchen. 

 

Lebenspraktische Fertigkeiten: Es wäre sehr wichtig, daß man sie so vermittelt, daß sie zum Bestandteil des Lebens werden. Das gilt nicht nur für Schulen, sondern auch für Rehabilitationszentren. Wenn man Kochen lernt und anschließend in den Speisesaal zum Essen geht, dann ist es sehr schwer einzusehen, warum man sich diese ganze Mühe machen soll. Es ist gerade auch für Späterblindete wichtig, daß man die Dinge, die man unterrichtet, voll in deren Leben integriert. Das geschieht erfreulicherweise inzwischen auch mehr und mehr.

 

Kommen wir zu dem Punkt, den ich als "Blindenbewußtsein" und die "Blindenkultur" bezeichnen möchte ‑ Ein Gedanke, mit dem ich auch seit Jahren spiele und wo mir leider bisher die Zeit gefehlt hat, mich etwas tiefer damit zu befassen. Deshalb gebe ich diese Anregung hier weiter.

 

Als ich zur Schule gegangen bin, da war da Willi Bröhl, der hat einmal in der Woche Klavierunterricht erteilt. Wir alle wußten: "der ist blind, er ist im Blindenverein, er ist der Vorsitzende. wenn ich groß bin, gehe ich da auch mal hin." Es ist natürlich mein Interesse als Vertreter der Blindenselbsthilfe, daß alle blinden Schüler später einmal in den Blindenverein gehen. Aber was für uns wichtig daran war, war zu sehen: hier ist ein erwachsener Blinder Mensch, der steht mitten im Leben, so wie wir das alle gerne tun wollen. Wir haben gemerkt, es gibt eine Zusammengehörigkeit zwischen den Blinden, eine gewisse Solitarität, wobei uns damals vielleicht noch nicht so bewußt war, daß man die gelegentlich auch einmal braucht. Aber man merkt es später im Leben, und ich bin froh, daß ich das gehabt habe.

 

Es gibt das schöne Motto, das sich ein amerikanischer Blindenverband auf die Fahnen geschrieben hat: "It is respectable to be blind!" (Es ist respektabel, blind zu sein oder, anders formuliert: Es ist keine Schande, blind zu sein.) Wenn ich diesen Satz sage, dann werden viele blinde Freunde zu mir sagen: "Ja, das stimmt, ja klar, wieso auch." Und trotzdem kennen wir alle die Situationen ‑ ich war bestimmt auch schon in solchen ‑ in denen Menschen versuchen, irgendwo ihre Blindheit zu verbergen. Und das kommt um so häufiger vor, wenn man diesen Satz, daß es keine Schande ist, blind zu sein, noch nicht so sehr verinnerlicht hat. Wir haben das an unseren Schülern in Lebach daran gesehen, daß sie sich selber nicht als "blind" sondern als "schääl" bezeichnet haben, was ein abwertender Begriff ist (ich habe mir sagen lassen, nur in Köln sei es anders). Die Blindenschule wurde dann selbstverständlich zum "Schääle‑Bunker". Wir haben in unserer Schulzeit für die Schule wahrscheinlich auch so Ausdrücke wie "Bunker" gebraucht. Aber das Entsetzliche an "Schäälebunker" ist, daß diese Schüler sich selber ins Lächerliche ziehen, sich selber herunterputzen, weil sie meinen, dadurch bei irgendwelchen anderen Menschen mehr Anerkennung zu finden. Die Anerkennung werden sie vielleicht finden, aber ist es die Art von Anerkennung, die wir wirklich brauchen?

 

Auch hieran müssen wir arbeiten. Ich habe mir sagen lassen, es gab in früheren Jahren an Blindenschulen ein Fach, das "Blindenkunde" hieß. Ich habe selber nicht das Glück gehabt, diesen Unterricht zu genießen, aber ich weiß, daß es darin zum einen um die gesetzlichen Regelungen ging, die man als blinder Mensch kennen sollte, weil sie einem betreffen, daß es aber auch darum gegangen ist, wie ist es blinden Menschen früher oder anderswo ergangen. Wie ging es den Blinden im Altertum, wie hat sich die Geschichte weiterentwickelt, wo stehen wir heute?

 

Blinde Menschen müssen lernen, daß sie ihre Blindheit nicht verbergen müssen (wir brauchen ja nicht rumzurennen und zu sagen: "Hurra, ich bin blind" ‑ aber wir sollten soweit kommen zu sagen: "Ich bin blind, na und?", oder "Ich bin blind, OK, dann bin ich es halt, aber das soll mich nicht daran hindern, voll im Leben zu stehen." Ich habe irgendwo den schönen Satz gelesen "Mein Leben wird bestimmt durch mich und nicht durch meine  Blindheit / Sehbehehinderung". Ich denke, dieses Bewußtsein, so schwer es zu vermitteln ist, das sollen wir vermitteln, und keiner kann es besser vermitteln als wir Betroffenen selber. Aus diesem Grunde ist es ungeheuer wichtig, daß Späterblindete, aber auch schon blinde Kinder und Jugendliche Kontakt zu anderen blinden Menschen finden, die als Blinde im Leben stehen, die viele der Aufgaben, vor denen sie noch stehen werden, schon gelöst haben, oder auch nicht gelöst haben, und sie können dann sehen, warum ist das so, und wie würde ich es anders machen.

 

Und was auch wichtig ist, machen wir uns nichts vor: Manchmal ist Blindsein ganz schön frustrieren. Ich wohne in einer Stadt, die derzeit nur aus Baustellen besteht. Es tut gut, wenn man dann einen Blinden trifft, der auch sagt: "Jawohl, das ist das Letzte, was diese ... von der Stadt sich da wieder zurechtplanen." Es ändert Nichts an der Sache selbst, aber es ist eine "moralische", solidarische Unterstützung, die hilft, die Frustrationen des Arbeitsweges besser zu verkraften.

 

Gerade vor vier Wochen habe ich am Kongreß des US‑amerikanischen Blindenverbandes National Federation of the Blind teilgenommen. Solche Kongresse finden jedes Jahr Anfang Juli statt. Letztes Jahr hatten sie in New Orleans 3346 Teilnehmer, davon die meisten blind. Man betritt das Hotel, in dem der Kongreß stattfindet, und hört hunderte von Stöcken auf den Boden ticken, und plötzlich ist man nicht mehr die Minderheit, die Ausnahme, sondern man ist in der Mehrheit und alle sind so, wie man selber ist. Vor Jahren fand der Kongreß in einem Hotel statt, das wahrscheinlich noch ungeeigneter für Blinde ist als die Stadt Weil am Rhein. Es gab keine Ecken, es war alles rund, so  daß man, wenn man die richtige Rundung verpaßt hat, sich irgendwo durchwinden mußte, bis man plötzlich an irgendeinem Merkmal erkannt hat, wo man war. Unter anderen Umständen wäre so etwas kaum zu ertragen; Aber, da es allen so ging, war es viel weniger schlimm und hat den meisten Spaß gemacht. Es ist enorm erholsam, einmal im Jahr das Gefühl zu haben, ich bin nicht die Ausnahme, Hier haben die meisten das gleiche Problem. Das gibt Kraft für die Frusts des kommenden Jahres. Auch wenn es bei uns keine derartigen Kongresse gibt, kann das zusammensein mit anderen blinden und sehbehinderten Menschen den gleichen Effekt erzielen. Deshalb müssen diese Kontakte ‑ auch von hauptamtlicher Seite her ‑ gefördert werden.

 

Blindenkultur: Ich weiß, daß wir in meiner Schulzeit ein verstärktes Interesse daran hatten, mit "auditiven Medien" zu experimentieren. Wir haben uns Hausleitungen gelegt (über die wir von Zimmer zu Zimmer miteinander Reden oder uns Musik vorspielen konnten), mit Tonbändern

Hörspiele zusammengeschnitten, Lieder umkopiert, Rundfunksendungen produziert (und teilweise auch über Schwarzsender gesendet). Es war eine tolle Sache, an der wir Spaß hatten. Wir sollten auch solche Aktivitäten fördern, denn daß wir uns so stark mit diesen Medien auseinandergesetzt haben, lag daran, daß wir in diesem Bereich eben voll und ganz mithalten konnten. Und nicht zuletzt fördert der Umgang mit technischen Geräten auch das technische Verständnis.

 

Mehr und mehr Dinge, die früher noch handbetrieben gemacht wurden, werden heute mit technischen Geräten getan, und diese Geräte werden leider immer komplizierter. Es wird immer schwieriger für uns, sie zu bedienen. Manchmal braucht man schon ein bißchen technischen Sachverstand, um die ganzen Dinge noch in den Griff zu kriegen. Ich denke, daß ist eine Sache, die gerade im Internatsbereich sehr gut gefördert werden könnte und sollte.

 

Ein wichtiges Anliegen ‑ ich habe es schon einmal gesagt ‑ ist die Zusammenarbeit zwischen Hauptberuflern und Blindenselbsthilfe. Die Hauptberufler müssen wissen, was sind die aktuellen Themen, die in der Blindenselbsthilfe diskutiert werden. Dabei denke ich nicht nur an gesetzliche Regelungen, sondern auch an andere Bereiche, wie Freizeitmöglichkeiten und vor allem den Hilfsmittelbereich. Computerlehrer sollten einen umfassenden Überblick darüber haben, welche Zusatzgeräte und Programme es für Blinde und Sehbehinderte gibt und vor allem: Welche Erfahrungen die Anwender mit dieser Hard‑ und Software gemacht haben. Leider scheint es mir so, daß im Schulbereich die 5 größten Hilfsmittelfirmen vorherrschend sind, während im Privatbereich teilweise ganz andere Firmen das Sagen haben. Mir fallen verschiedene Gründe hierfür ein. Einer ist zweifellos, daß es sehr schwierig geworden ist, den "Gesamtüberblick" über den Markt zu behalten. Und die meisten Schulen können auch aus finanziellen Gründen mit ihrer Geräteausstattung nicht immer auf dem neuesten Stand sein. Aber immer häufiger erwerben Eltern für ihre Kinder eine Computerausrüstung (oder sie finden jemand, der sie finanziert), und da ist es wichtig, daß auch die Lehrer und Medienexperten der Schulen in der Lage sind, eine umfassende Beratung zu vermitteln oder den Eltern zumindest kompetente Ansprechpartner aus dem Bereich der Blindenselbsthilfe zu nennen.

 

Ich habe viel davon gesprochen, was die Blindenselbsthilfe den Blinden‑ und  Sehbehindertenpädagogen zu bieten hat. Aber auch umgekehrt können  wir von der Blindenselbsthilfe sehr viel von Hauptberuflern profitieren. Ein Bereich, an den ich da besonders denke, und der mir auch besonders am Herzen liegt, ist der Bereich der Mehrfachbehinderung. Ich glaube, daß es teilweise überhaupt keine und teilweise falsche Vorstellungen über diese Personengruppe in den Organisationen der Blindenselbsthilfe gibt. Es tauchen Fragen auf wie: "Was machen wir jetzt? Wir hören, daß die meisten blinden Kinder mehrfachbehindert sind. Um Gottes willen, was machen wir, wenn die bei uns in den Verein kommen! Können wir mit denen überhaupt etwas anfangen? Können wir sie aufnehmen? Und wenn ja, mit vollen Rechten?" Es besteht Unsicherheit, aber auch teilweise Angst vor Reaktionen, die man nicht kennt und nicht einschätzen kann. Hier müssen Hauptberufler mehr in die Blindenselbsthilfe hineingehen, und die Blindenselbsthilfe muß sie sich mehr einladen, um sich mit diesem Thema zu befassen; denn diese Ängste können teilweise sehr gut abgebaut werden, und ich kann mir vorstellen, daß so mancher Mehrfachbehinderte eine wirkliche Bereicherung für das Leben in seinem Verein sein kann. Dem dürfen wir uns nicht verschließen, von uns aus alleine schaffen wir das nämlich nicht.

 

Wir hatten vor Jahren eine Mehrfachbehindertenfreizeit des Deutschen Blindenverbandes, bei der es einige interessante Probleme gegeben hat, die ich vielleicht einmal beim Bier erzähle. Wir wissen jetzt, daß eine solche Freizeit mehr Vorbereitung und auch mehr und besser geschultes Begleitpersonal braucht als unsere anderen Freizeiten. Und hier können und müssen wir gewaltig von den Hauptberuflern profitieren, die uns gegenüber auf diesem Gebiet einen Wissensvorsprung haben.

 

Meine Damen und Herren! Ich habe schon länger geredet, als ich es vorhatte. Deshalb komme ich nun schnell zum Schluß und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

 

 

Norbert Müller


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