Erfahrungsbericht zum Thema

Mobilität

 

 

Ich schreibe diesen Bericht auf meinem Notebook auf der Zugfahrt von Basel nach Saarbrücken. Ich bin blind und reise sehr viel alleine, vorwiegend mit der Bahn.

 

Auf Bahnhöfen, die ich gut kenne - wie den in Saarbrücken - brauche ich beim Umsteigen keine Hilfe. Ich weiß, wo sich welches Gleis befindet und, wenn die Anschlusszüge durchgesagt werden, weiß ich auch, zu welchem Gleis ich gehen muss.

 

Leider fangen bereits hier die Probleme an: Der Personalabbau bei der Bahn führt dazu, dass auf kleineren Bahnhöfen niemand mehr ist, der die Anschlusszüge durchsagt. Selbst auf großen Bahnhöfen kann man sich nicht mehr darauf verlassen, dass alle Züge zuverlässig angesagt werden.

 

Wenn ich an unbekannten Bahnhöfen umsteigen muss, habe ich drei Möglichkeiten: 1. Ich kann mich „durch-fragen“, also mich bei anderen Reisenden erkundigen, wo mein Anschlussgleis zu finden ist; 2. ich kann die Bahnhofsmission um Hilfe bitten (das habe ich zum Beispiel fürs Umsteigen in Mannheim gemacht), und 3. das Serviceteam der Bahn hilft mir weiter. Meist benutze ich das Serviceteam, da die Hilfe seiner Mitarbeiter effektiver und schneller ist als die der Mission.

 

Bahnhofsmission und Serviceteam gibt es auf kleineren Bahnhöfen nicht; hier hilft dann nur durchfragen; gelegentlich hilft aber auch das Zugpersonal weiter, wenn es die Zeit erlaubt.

 

Wenn der Anschlusszug nicht durchgesagt wird, habe ich bei vielen Bahnhöfen die Möglichkeit, zum Servicepoint in der Bahnhofshalle zu gehen und dort nachzufragen. Servicepoints sind meist in der Nähe des Ein- oder Ausgangs oder sonst zentral in der Bahnhofshalle und deshalb relativ leicht zu finden. Ansonsten helfen Mitreisende weiter. Natürlich kann man auch die gleich um Hilfe bitten, falls sie nicht zu sehr in Eile zu sein scheinen.

 

Das Serviceteam und der Servicepoint gehören zu den wenigen Neuerungen, die die Bahn in den letzten Jahren eingeführt hat und die ich positiv bewerte. Ebenfalls positiv ist die Möglichkeit, Fahrkarten telefonisch vorzubestellen, wobei man demnächst diese aber nur noch am Fahrkartenautomaten abholen kann - und diese Automaten sind für blinde Menschen nicht zu bedienen. Ich habe heute Morgen den Versuch gewagt, weil sich diese Fahrt sehr kurzfristig ergeben hat. Ich habe dabei auf die Hilfe des Mitarbeiters des Serviceteams gehofft. Wir kamen beide nicht mit dem Automaten zurecht. Zum Glück war am Fahrkartenschalter keine lange Schlange.

 

In den letzten Jahren wird allgemein viel über „Barrierefreiheit“ gesprochen, und im Bereich „Zugänglichkeit von Gebäuden für Rollstuhlfahrer“ hat sich viel getan. Mir scheint, die Bahn hatte hier weitgehend taube Ohren und wartet eher darauf, bis ein Behindertengleichstellungsgesetz mit einklagbaren Rechten sie zwingt, für teueres Geld das nachzuholen, was man nicht von Vornherein einplanen wollte. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso es neue Züge gibt, bei denen man mehr statt weniger Stufen beim Einsteigen bewältigen muss; sogar im Zug selbst muss man bei manchen Zügen zwei Stufen runtergehen, um in ein Abteil zu gelangen.

 

Wenn ich auf einem Gleis angekommen bin und der Zug bereits dort steht, muss ich die Tür finden. Dies war früher relativ unproblematisch: Mit meiner Stockspitze bin ich am Wagon entlang-geschleift, bis ich eine Unterbrechung fühlte. kam kurz darauf eine Weiche stelle, war es das Dichtungsgummi der Türen. Dort musste ich mit der Hand hin und fand in der mir vertrauten Höhe den Türgriff, den ich öffnen konnte.

 

Inzwischen gibt es neue Züge, bei denen man weder das Gummi noch den Türgriff fühlt. Die Tür wird mit einem Knopf geöffnet, den man, wegen seiner Kleinheit, kaum finden kann. Man muss schon gründlich und systematisch die Tür, so man sie identifizieren kann, abfühlen, um ihn zu entdecken. Da Züge nicht sehr sauber sind, hat man sich sehr gründlich sehr schmutzige Finger geholt.

 

Diese könnte man auf der Zugtoilette - so man sie findet - waschen. Früher war das kein Problem: Alle Züge waren gleich aufgebaut: bei Nahverkehrszügen gab es einen Gang in der Mitte zwischen den Sitzreihen. Bei Fernzügen gab es Abteile für sechs Personen auf einer Seite des Wagons; auf der anderen war der Gang, der durch die Fenster begrenzt wurde. Die Toiletten befanden sich sozusagen zwischen den Wagons neben den Zugtüren, mit denen man sie wegen Aussehen und Lage nicht verwechseln konnte. Bei Nahverkehrszügen waren sie irgendwo in der Mitte, Aber auch dort waren sie wegen des schmaleren Durchgangs deutlich zu finden.

 

Heute sind die Wagons sehr unterschiedlich aufgebaut. Selbst innerhalb eines Wagons kann das Layout wechseln. Toiletten befinden sich weiterhin meist in Türnähe, aber an unterschiedlichen Stellen. Man muss also den Aufbau mehrerer Zugwagon-Typen kennen, um sicher zu wissen, wo man eine Toilette finden kann.

 

Gelegentlich haben Toiletten noch eine Türklinke; oft haben sie aber auch einen Griff, der eine Schiebetür öffnet - so wie es bei neueren Wagons auch der Fall ist. Dagegen ist allerdings aus meiner Sicht nichts einzuwenden.

 

Ist man in der Toilette, möchte man die Tür verriegeln. Wenn man Glück hat, gibt es für diesen Zweck noch eine Drehvorrichtung. Immer öfter findet man aber zwei Knöpfe: Einen zum Verriegeln und einen zum Entriegeln und Öffnen der Tür. Wer sieht, kann an der Farbe oder einem Symbol erkennen, welcher Knopf für welche Tätigkeit zuständig ist. Der blinde Toiletten-Nutzer kann nur hoffen, dass er den richtigen Knopf gewählt hat bzw. dass keiner versucht, die Toilette zu diesem Zeitpunkt aufzusuchen.

 

Ist das Geschäft erledigt, muss abgespült werden. Früher fand man mit dem Fuß einen Knopf oder Hebel, den man nach unten treten musste; das hat die Spülung ausgelöst bzw. - bei älteren Zügen - die Klappe geöffnet. Heute gibt es auch dafür Knöpfe, die man erst mal finden muss. Also wieder die verschmutzte Wand abfummeln. Logisches Denken hilft manchmal wenig: Den Spülknopf für die Toilette würde man irgendwo über der Toilette suchen. Bei ICE-Zügen der Deutschen Bahn befindet er sich aber am Waschbecken.

 

Die gleichen Probleme hat man auch beim Waschbecken. Statt dem Fußhebel muss man wieder einen Knopf finden; also wieder dreckige Hände holen. Nun ja, wir werden ja gleich wasser und Seife haben - letztere ist leicht zu fühlen - und dann können wir die Hände säubern. Man kann nur hoffen, dass der Seifenspender nicht leer ist - zumindest eine Hoffnung, die sich meist erfüllt.

 

Nach dem Waschen kommt das Abtrocknen. Und: Wir müssen den Knopf finden, der den Ventilator einschaltet. Wozu hat man sich die Hände gewaschen, wenn das Abfummeln der Wand hinterher wieder erforderlich ist.

 

Wie hygienisch waren doch Fußschalter und Papierhandtücher. Aber auf Hygiene kommt es - wie auf so viele andere nützliche Dinge - bei der Bahn heute nicht mehr an.

 

Um die Hygiene zu retten, gibt es bei manchen Zügen jetzt Lichtsensoren, mit denen man das Wasser und den Trockenautomaten starten kann. Vorausgesetzt, man hält die Hand an die richtige Stelle, was zumindest beim Wasserhahn nicht immer ganz einfach ist.

 

Noch schlimmer sind Sensortasten. Seit mehr als 20 Jahren sollte bekannt sein, dass sie für blinde Menschen ein Problem sind. Aber interessiert das die Bahn? In einem Schweizer Zug musste ich einmal meine Begleitperson zu mir in die Toilette bitten, damit sie mir zeigt, wo ich spülen und das Wasser zum Händewaschen starten kann. Wäre ich  in jenem Zug allein gereist, hätte ich die Toilette schmutzig zurücklassen müssen - was mir auch schon passiert ist.

 

Ein weiterer Vorteil der alten Züge bestand darin, dass die Nummerierung der Sitzplätze systematisch erfolgt ist. Man konnte die Abteiltüren oder die Fenster im Gang abzählen und seinen Platz selbständig finden bzw. wiederfinden. Ich habe eine Mitarbeiterin des Serviceteams in Basel mal gebeten, mir unterlagen über das Nummerierungssystem in Großraumwagen zu beschaffen, weil ich das Layout in Brailleschrift übertragen wollte. Der Plan ist gescheitert: Sie sagte mir, dass es zu viele verschiedene Systeme gäbe, so dass sie selbst nicht mehr durchsteigen könnte. Man muss im Zug also Mitreisende fragen, wo sich welche Platznummer befindet.

 

Hat man seinen Sitzplatz verlassen - zum Beispiel, um die bereits beklagte Toilette aufzusuchen, fängt das Spiel von neuem an. Ich behelfe mir damit, dass ich ein Brailleschriftheft über die äußere Armlehne lege, nach dem ich dann beim Zurückkommen suchen kann. Zum Glück hat noch kein Möchtegern-Witzbold heimlich das Heft weggenommen.

 

Jetzt sitze ich also im Zug, über mir im Gepäckfach meine Reisetasche, die keine Übergröße hat. Trotzdem steht sie vorne über, weil das Gepäckfach einfach zu klein ist. Dafür gibt es an einigen Stellen die Möglichkeit, den Koffer zwischen den Sitzen zu verstauen. Auch gibt es bei manchen Wagons spezielle Kofferaufbewahrungsfächer. Der Nachteil: Der blinde Reisende hat seinen Koffer nicht mehr bei sich und kann ihn somit nicht überwachen. Auch wenn man zwischendurch ans Gepäck will, um etwas herauszunehmen oder hineinzulegen, hat man das Problem, den Koffer und anschließend den Sitzplatz zu finden.

 

Für Sehbehinderte kommen weitere Probleme hinzu: Fahrpläne sind zu klein geschrieben und befinden sich weit hinter der Glasscheibe, so dass auch „vergrößernde Sehhilfen“ wenig nutzen. Es fehlt an farblichen Kontrasten. Die Nummerierung der Zugwagen ist selbst für sehende Menschen oft kaum noch von außen zu erkennen.

 

 

Inzwischen bin ich in Saarbrücken angekommen und in einen Nahverkehrszug umgestiegen. Der Schaffner hatte, obwohl es nicht notwendig gewesen wäre, eine Dame vom Serviceteam vorbestellt. Dass er diese Möglichkeit hat, ist übrigens auch etwas, das sich bei der Bahn verbessert hat.

 

Bevor die Dame mit mir zu meinem Zug gehen konnte, musste sie noch einem Rollstuhlfahrer in den Zug helfen. Eine mühsame Arbeit, da ja wieder Stufen überwunden werden und dann im engen Eingangsbereich der Rollstuhl gewendet werden musste. Ihre Arbeit wurde noch durch eine Reisende erschwert, die - obwohl ein Zug viele Türen hat und die Abfahrt des Zuges erst nach etwas mehr als fünf Minuten erfolgen würde, sich unbedingt noch am Rollstuhl vorbeizwängen musste. Sie wurde dafür aber kräftig von einem Mann beschimpft, der dabei stand, der Dame vom Serviceteam ansonsten aber nur mit „guten Ratschlägen“ geholfen hat.

 

Der Nahverkehrszug, in dem ich jetzt sitze, stand schon bereit. Die Tür war leicht zu finden, weil sie offen stand. Man musste vier(!) Stufen hoch und war im Wagon. Ich habe die Mitarbeiterin des Serviceteams gefragt, was sie getan hätte, wenn sie den Rollstuhlfahrer in diesen Zug hätte bringen müssen. „Dann müssen wir halt vorher Bescheid wissen und dafür sorgen, dass der Zug ausnahmsweise auf einen Gleis abfährt, bei dem der Bahnsteig hochgelegt wurde.“ - Und da sage mal einer, die Bahn würde nix für ihre behinderten Fahrgäste tun.

 

Um es deutlich zu sagen: Es sind die Führungskräfte der Bahn, die Damen (falls es dort welche gibt) und Herren auf der Entscheidungsebene, gegen die sich meine Kritik richtet. Das Personal im Zug und auf den Bahnhöfen ist fast immer sehr freundlich und zuvorkommend. Oft ist man bereit, behinderte Menschen neue Züge „besichtigen“ zu lassen, damit sie sich damit vertraut machen können. Aber was nützt die Vertrautheit, wenn man dann enttäuscht feststellen muss, um wie viel schwerer der neue Wagontyp für uns zu benutzen ist wie seine Vorgänger?!

 

Aha, der Schaffner ruft die einzelnen Stationen aus; sehr erfreulich für jeden Reisenden, vor allem für blinde Menschen, die ja das Schild auf dem Bahnsteig nicht lesen können. Vorhin im ICE wurden sogar die Anschlusszüge einschließlich Abfahrtsgleis genannt - ein Service, der inzwischen schon wieder nicht mehr selbstverständlich ist. Dafür erfährt man, wie der Zugführer heißt, und dass er uns eine angenehme Reise wünscht. Das hilft ja auch enorm weiter.

 

Nun gut, ich sitze in meinem letzten Zug für diese Fahrt; und wenn ich nicht bei der Endstation der einzige bin, der noch im Wagon bleibt, werde ich ja auch herausfinden, auf welcher Seite ich aussteigen muss - aber nur dann, denn diese wichtige Information wird mal wieder nicht durchgesagt!

 

Allen, die auch oft mit dem Zug reisen müssen, wünsche ich, wie ihr Zugführer auch, eine „angenehme Reise“. Trinken Sie nicht zu viel, dann können Sie vielleicht zumindest das Clo vermeiden.

 


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