Russische Eier

 

 

Da sitzen meine Frau und ich am Montag, 28. Oktober 2002, beim Frühstück und hören SWR1. Ich weiß, in 5 Tagen werde ich das halbe Jahrhundert vollendet haben. 50! Da fängt langsam das Alter an.

 

Natürlich denkt man zurück an seine erste Lebenshälfte - wobei es ja wahrscheinlich schon ein gutes Stück mehr als die Hälfte des Lebens sein dürfte, das ich hinter mir habe. Man fragt sich: Was hatte ich mir erträumt? Was ist wahr geworden? Was bleibt noch zu tun? Was war besonders schön? Was war unangenehm? Und so weiter.

 

Und da kommt just am eben erwähnten Morgen plötzlich ein Beitrag über die Gastronomie vor 30 Jahren. Damals, so erinnert man uns, waren typische Gerichte auf den meisten Speisekarten das Restaurationsbrot und Russische Eier. Restaurationsbrot, das haben sich meine Eltern gern bestellt. Und ich war der absolute Fan von Russischen Eiern (manchmal als „Kastrierter Iwan“ bezeichnet).

 

Man darf - so wurde auch in dem Radiobeitrag angedeutet - getrost bezweifeln, ob dieses Gericht wirklich etwas mit Russland zu tun hatte. Gekochte Eier mit Fleischsalat - manchmal gab es auch „Lachs“ dazu, der natürlich Lachsersatz war; das wirkte dann schon glaubhafter „russisch“.

 

Ich hab das so oft bestellt und auch so gerne gegessen, dass ich gar nicht verstehe, wie diese „Delikatesse“ so still und heimlich verschwinden konnte, ohne dass ich es bemerkt habe. Wenn auf der Speisekarte keine „Russischen Eier“ standen, hat man halt was anderes bestellt. Es war ja nicht so, dass ich sie zwanghaft haben musste; außerdem war es sowieso eine Speise für abends, denn mittags gab es da ja was anderes (siehe unten). Und so haben die Speisekarten, auf denen die Russischen Eier fehlten, eben mehr und mehr zugenommen. Wir haben vergessen, danach zu fragen - und heute ist es zu spät. Die Gasthäuser, in denen ich gelegentlich mal abends esse, haben sämtlich Speisekarten, auf denen die Russischen Eier fehlen. Und bis zum 28. Oktober 2002 habe ich diese Speise nicht mal mehr schmerzlich vermisst.

 

Und nun frage ich mich, was noch alles ausgestorben ist oder aussterben wird, wenn wir nicht aufpassen.

 

Mittags gab es für mich nichts besseres als Jägerschnitzel. Bedauerlich war nur, dass es meist nicht mit Pommes Frites einherging, weil die die Pilzsoße halt nicht so gut aufsaugen können. Doch man konnte ja umbestellen - und die eventuellen schiefen Blicke der Bedienung habe ich ja sowieso nicht gesehen.

 

Aber ist nicht auch schon das Jägerschnitzel seltener geworden? Wird die Zeit kommen, wo man sich schmerzlich daran zurückerinnern wird, dass man einst diese Schnitzelvariante in fast jedem Lokal kriegen konnte?

 

Vielleicht lohnt es sich, mal eine Liste der vom Aussterben bedrohten Speisen aufzustellen. Der „Stramme Max“ (Brot mit gekochtem Schinken und Spiegelei) gehört unbedingt auch auf diese Liste, ebenso wie Soleier. - Soleier, Russische Eier, der Stramme Max braucht Eier - geht es vielleicht generell Eiern an den Kragen, oder fallen alle diese Dinge der Angst vorm Cholesterin und dem alles beherrschenden Schlankheitswahn zum Opfer?

 

Andererseits gibt es Unsitten in der Gastronomie, bei denen ich seit Jahrzehnten vergeblich darauf warte, dass sie endlich wieder verschwinden: die großen Salatblätter, die manchmal sogar noch als Schälchen für Soßen oder ähnliches herhalten müssen, die Orangenscheibe, die nicht mal geschält wurde, dafür aber in der Soße liegt, so dass man sich entweder die Finger versauen oder sie ungebraucht zurückgehen lassen muss, und Formulierungen wie „Putenschnitzel an Speckböhnchen“, „Rinderfilet im Gemüsebett“ - alles Phrasen, die nach besonderer Delikatesse klingen und somit einen höheren Preis rechtfertigen sollen.

 

Noch besteht Hoffnung. In dem Beitrag auf SWR1 wurde erwähnt, dass es noch Kneipen gibt, wo man sich Russische Eier bestellen kann. Ich werde wieder verstärkt darauf achten. Und meinetwegen nennt sie „Eier Gorbatschow im Fleischsalat-Dressing“ - ich werde sie bestellen. Nur gegen „Eier Jelzin“ hätte ich etwas. Aber die müssten dann in Wodka eingelegt werden - und ob das wirklich schmeckt? Ich würd’s erst mal andere ausprobieren lassen - und dann trotzdem bei den althergebrachten Russischen Eiern bleiben. Mit 50 bin ich halt doch schon langsam ein „alter, unverbesserlicher Betonkopf“!

 

Geschrieben am 30. Oktober 2002

 


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