Blind mit dem Tandem unterwegs
Meine ersten Fahr-Erfahrungen machte ich, wie wohl die meisten von
uns, auf dem Dreirad. Irgendwann hatten meine Eltern es mir zu
Weihnachten geschenkt, und ich fuhr eifrig damit im Hof hinter unserem
Haus herum. Auf die Straße durfte ich nicht alleine fahren,
hatten meine Eltern mir gesagt, und als braver Bub hielt ich mich
natürlich daran. Ich wusste ja nicht, dass ich blind war - zumal
ich damals noch hell und dunkel sehen konnte.
Eines Tages nahm mein Cousin Armin mich auf seinem Roller mit. Aus dem
Dreiradalter war ich inzwischen heraus, und das Rollerfahren machte
mir Spaß. Ich bekam bald selbst einen Roller, mit dem ich bei
uns im Hof oder auf dem Bürgersteig vor unserem Haus fahren
konnte. Gelegentlich war ich auch mit meinem Vater im Wald unterwegs.
Inzwischen wusste ich, dass ich blind war und aufpassen musste, dass
ich nicht vom Weg abkam oder ahnungslose Fußgänger nicht
erschrecken durfte, weil ich ihnen nicht auswich. Aber mein Vater
passte gut auf, und so kam es nur einmal zu einem Zusammenstoß
mit einem Passanten - und das war jemand, den wir gut kannten.
Nach dem Roller - das wusste ich - würde das Fahrrad kommen. Aber
das schien meinen Eltern und vor allem auch meiner über
80-jährigen Oma, die im gleichen Hause wohnte, zu
gefährlich.
Das Interesse am Radfahren aber blieb; und als ich 21 Jahre alt war
und mein Vater wieder anfing, selbst Rad zu fahren, war die
Gelegenheit da: Wie früher mit dem Roller gingen wir zu wenig
benutzten Wegen oder auf den Sportplatz, wo ich dann fahren konnte.
Wenn unerwartet etwas im Weg auftauchte oder ich - ohne es zu merken -
zu dicht an den Wegrand kam, konnte mein Vater mich durch Zuruf oder
Pfiff warnen.
Ich wusste damals schon, dass es Tandems gab, wo zwei Leute auf einem
Rad fahren konnten; aber als Student war ich nur selten zuhause bei
meinen Eltern im Saarland und so blieb das Tandemfahren zunächst
mal ein Zukunftsprojekt.
1979 besuchte ich dann Freunde, die ein Tandem besaßen. Schon
die erste Rundfahrt hat mich natürlich begeistert: Endlich konnte
ich mal eine richtige Strecke fahren, ohne ständig wenden zu
müssen. Als ich sonntags zurück nach Marburg, meinem
Studienort fuhr, hatte ich sogar das Glück, dass wir den Bus zum
Bahnhof verpassten und die Strecke schnell mit dem Tandem
zurücklegen mussten. Offensichtlich werden Stoßgebete
manchmal wirklich erhört.
1981 war es dann so weit: Ich lebte wieder im Saarland, war
berufstätig und kaufte mir mein erstes eigenes Tandem, ein
Renntandem von Peugeot. Mein Freund Rainer, der auch blind ist, hatte
das gleiche Rad. Und er hatte eine Bekannte, die gerne mit mir fahren
wollte. Auch mein Vater stand als Tandempilot bereit; ich wusste also,
dass sich die Anschaffung lohnen würde.
Wir haben damals herrliche Ausflüge gemacht. Und da Tandems immer
noch selten waren, gab es bei Fahrten natürlich jede Menge
Kommentare der Passanten zu hören, am häufigsten Der
wo hinne huggt träht nit mit (der, der hinten sitzt, tritt
nicht mit).
Wenn ich heute fahre, höre ich solche Kommentare selten. Liegt es
daran, dass Tandems häufiger zu sehen sind - nicht nur blinde
Radfahrer schätzen diese Radvariante - oder ist es die
unterschiedliche Mentalität der Saarländer und der
Markgräfler? Um das feststellen zu können, müsste ich
mit dem Tandem mal einen Abstecher ins Saarland machen, wozu ich
natürlich gerne bereit bin!
Ich muss hier erwähnen, dass Monika, meine hauptsächliche
Tandempilotin, sogar lieber Tandem als reguläres
Fahrrad fuhr, weil man sich beim Tandemfahren besser unterhalten kann.
Und auch mein Vater war immer ganz stolz, wenn er mit mir unterwegs
war. Er grüßte jeden Passanten, damit ihn ja alle mit mir
auf dem Tandem sehen konnten.
Natürlich machte ich auch die Erfahrung, die wohl kaum einem
blinden Tandemfahrer erspart bleibt: Bevor ich das Fahrrad gekauft
hatte, sagten viele Freunde zu mir: Au ja, kauf dir ein Tandem;
dann fahren wir mal zusammen! Als ich das Rad hatte, sind sie
mal - nämlich ein mal mit mir gefahren;
dann hatten sie die Erfahrung, mal Tandem gefahren zu sein - und ich
hatte das Tandem. Das war aber nicht so schlimm für mich, da ich
ja meine zwei Stamm-Piloten hatte.
1983 kam die erste Tandempause, weil ich für 16 Monate in die USA
ging. Mein Tandem hatte ich nicht mitgenommen, zumal ja
ursprünglich vorgesehen war, dass ich nur 4 Monate bleiben
würde.
Als ich zurück kam, war Monika aus dem Saarland weg gezogen; so
blieb mir noch mein Vater als Pilot. Später kam dann noch der
Vater meiner damaligen Freundin hinzu; wir fuhren vorwiegend im Wald,
was natürlich nicht das Ideale für ein Renntandem war.
Dann trennte ich mich von der Freundin, mein Vater bekam
gesundheitliche Probleme und ich wurde im Blindenwesen so aktiv, dass
ohnehin kaum Zeit fürs Tandemfahren blieb. 1996 zog ich nach Weil
und verkaufte mein altes Tandem an meine Tante. Ich wusste aber, das
ich das Radfahren nicht für immer aufgeben würde. Ich wollte
es meiner Frau nur nicht zumuten, dass ich an den wenigen Wochenenden,
an denen ich nicht ohnehin unterwegs war, auch noch
Tandemausflüge machen würde, anstatt die freien Tage mit ihr
zu verbringen.
Seit Ende 2003 habe ich nun keine Ehrenämter mehr im
Blindenwesen. Und als mir der Arzt wegen Problemen mit dem Knie dann
noch empfahl, Rad zu fahren, stand für mich fest: Der Zeitpunkt
für ein neues Tandem war gekommen. Zuerst musste ich aber sicher
stellen, dass ich auch Piloten hätte, die mit mir fahren wollen.
Die fand ich über eine Zeitungsannonce; auch zwei Leute aus
unserem Bekanntenkreis waren an Tandemfahrten interessiert, und so
nahm ich den Tandemkauf in Angriff.
Ich entschied mich diesmal für ein Mountainbike, weil ich besser
für Fahrten im Wald gerüstet sein wollte; auch sollten mich
Berge nicht mehr so quälen wie zu Rennradzeiten. Und
so kam dann am 9. Juli 2004 mein neues Mountainbike von Cannondale,
mit dem ich jetzt wieder auf zwei Rädern unterwegs sein kann.
Mein wichtigster Tandempilot ist Wolfgang Koch aus Schopfheim. Mit ihm
mache ich die weitesten Ausflüge, er sucht Strecken aus, die
unsere Fitness steigern und er steht regelmäßig einmal pro
Woche zur Verfügung. Unsere weiteste Strecke sind wir am 30. August 2005 gefahren: Zunächst mit dem Fahrad von Weil zum Badischen Bahnhof in Basel, dann per Zug nach Schaffhausen am Rheinfall, und dann mit den Tandem zurück nach Weil am Rhein - insgesamt 136 km. Unsere zweit-weiteste Tour hat uns am 5. Juli 2005 von Weil am
Rhein aus bis Breisach und zurück geführt, eine Gesamtstrecke von 131 km.
Hier ist es nun an der Zeit, einige allgemeine Feststellungen zu
treffen:
Viele Radler befürchten, ein Tandem würde wegen der Person
hinten zu sehr wackeln. Ich darf dazu sinngemäß einen
Mitarbeiter des Ladens zitieren, in dem ich mein Tandem gekauft habe:
Er hatte vorher mit einem Sehenden Radler eine kurze Tour gedreht,
bevor er mit mir eine Probefahrt machte. Sein Eindruck: Mit mir lief
die Fahrt viel ruhiger, weil ich das, was auf uns zu kam, ja erst
bemerkt habe, wenn er darauf reagiert. Konkretes Beispiel: Der Sehende
sieht eine Kurve und verhält sich entsprechend - eventuell schon,
bevor der Pilot das tun würde. Ich als blinder Beifahrer reagiere
auf die Kurve erst, wenn der Pilot sie anfährt. Dadurch, dass ich
mich genau ihm anpasse, wird er durch mich kaum
gestört.
Hinzu kommt, dass man es als blinder Tandemfahrer gewohnt ist, mit
unterschiedlichen Piloten zu reisen. Schon deshalb hat man keine
Schwierigkeiten damit, sich verschiedenen Fahrstilen anzupassen.
Das Anfahren erfordert eine gute Koordination, die sich schnell
einspielt. Ich sitze schon auf dem Sattel; der Pilot stößt
uns ab und beginnt dann mit dem Treten, dem ich mich sofort anpasse.
Wenn wir absteigen müssen, müssen wir uns einigen, auf
welcher Seite wir den Fuß auf die Erde setzen. Das erkenne ich
schon an der Neigung des Fahrrads; Also kein Problem. Ansonsten
würden zwei Wörter genügen, z.B. Absteigen
links.
Wenn der Tandempilot aufhört zu treten, spüre ich das sehr
gut am veränderten Widerstand über die Pedale, mit denen ich
übrigens durch Klickmechanismus verbunden bin; also halte auch
ich dann die Füße ruhig. Gleiches gilt natürlich
für das erneute Trampeln oder für eine
Geschwindigkeitserhöhung, wenn man z.B. noch schnell eine Ampel
überqueren muss.
Wie viele Informationen der blinde Beifahrer erwartet, ist von Person
zu Person unterschiedlich. Mir muss man Kurven udgl. nicht ansagen, da
ich das ja spüre und mich automatisch entsprechend in die Kurve
lege. Ich erwarte auch nicht, dass mein Pilot mir ständig die
Landschaft beschreibt, die wir durchqueren; mir reichen meist die
Eindrücke, die ich ohnehin gewinne; natürlich ist es auch
schön, über interessante Dinge (Da rechts stehen
Störche im Feld) informiert zu werden. Ansonsten würde
ich fragen, wenn ich etwas wissen will.
Generell kann man feststellen: Ein guter Radfahrer hat mit dem Tandem
keine Probleme! Diese Erfahrung bestätigt sich immer wieder. Ich
lasse neue Piloten zunächst einmal eine kleine
Probefahrt machen, ohne dass ich aufsitze. So können
sie ein Gefühl für das längere Fahrrad gewinnen; dies
geht sehr schnell (wenige Minuten). Danach steige ich auf für
eine kleine Runde. Dann fühlen sich die Piloten schon sicher
genug, um eine größere Fahrt zu machen. Und am Ende dieser
Tour sind wir sowieso bereits gut aufeinander eingespielt.
Ein Nachteil, den fast jeder blinde Tandemfahrer kennt, ist, dass
nicht immer jemand zur Verfügung steht, wenn man gerade mal
fahren möchte. Da ist es hilfreich, wenn man einen
Pool von Piloten hat. Leider musste auch ich wieder die
Erfahrung machen, dass sozusagen in meiner zweiten Tandemsaison in
Weil nicht mehr alle Piloten, die ich durch die Zeitung oder privat
fand, noch regelmäßig oder überhaupt Zeit für
mich haben. Eine Tour pro Woche ist mir zu wenig. Manchmal wäre
es schön, noch nach Feierabend eine kleine Runde drehen zu
können. Darüber hinaus habe ich aber auch ehrgeizigere
Pläne: Mich interessieren mehrtägige Reisen und Touren von
mehr als 100 km am Tag. Ich möchte mal eine Bekannte in
Schönenwerd bei Aarau mit dem Tandem besuchen. Mein Traum ist
natürlich, mal entlang meinem Heimatfluss, der Saar, von der
Quelle bis zur Mündung zu fahren. Und dann gibt es ja noch
längere Flüsse oder andere, interessante Fahrten durch den
Schwarzwald oder in anderen schönen Gegenden - nicht nur in
Deutschland.
Das setzt natürlich voraus, dass man vorher auf kürzeren
Strecken geübt und sich aufeinander eingespielt hat. Den Willen
habe ich, die Erfahrung habe ich, das Tandem habe ich, wo bleiben die
Piloten?
Norbert Müller, Mai 2005
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